Grüß Dich, Tine 1972!
Ich muss ein wenig ausholen. Es wird hier um die Ängste Deines Mannes gehen wegen seiner beruflichen Zukunft.
01
Vorab aber noch kurz etwas zu den Fragebogen. Ich habe Deine Frage wegen der Schmerzen nicht ganz verstanden. Wahrscheinlich bin daran ich schuld. Sagen wir mal: Der ISLÄNDER kann halt nicht richtig Deutsch. Also:
Wer den Fragebogen benutzt, soll dabei auch die Schmerzen berücksichtigen.
Wer sich jemals den Fuß verstaucht hat: Theoretisch kann man damit gehen, es ist nicht gebrochen. Praktisch kann man damit nur auf einem Bein hüpfen: Dem gesunden Bein.
Und nach dem, was praktisch geht, geht auch der Fragebogen.
02
Ich beantworte einmal die Frage, ob man Deinen Mann in einen Bürojob "reinpressen" kann.
(a)
Versprichst Du mir, dass Du nicht erschrickst? Ja? Sehr gut!
(b)
In einem Buch, dass alle kennen, die beruflich mit Personenschäden umgehen, findet sich folgender Satz:
"Grundsätzlich ist der Verletzte, der unfallbedingt in seinem alten Beruf nicht mehr oder nicht mehr voll arbeiten kann, verpflichtend verpflichtet, seine verbleibende Arbeitskraft.... In den Grenzen des Zumutbaren und Möglichen so nutzbringend wie möglich einzusetzen.“
(Küppersbusch/Höher, Ersatzansprüche bei Personenschäden, 14. Aufl. 2024, Rn. 54)
(c)
Aber was es zumutbar?
(ca)
Für jemanden, der solche Fachbücher verwendet, ist es verdächtig, dass das Buch an dieser Stelle Klarheit vermissen lässt.
(cb)
Ein Fachmann wundert sich darüber aber nicht. Küppersbusch war Prokurist einer Versicherung, wie zum Allianz Konzern gehörte. Und Höher ist in der Kanzlei BLD (ich glaube, rund 130 Rechtsanwälte, mit mehreren Niederlassungen quer über ganz Deutschland) in einer Top-Position. BLD wirbt für sich, einen großen Teil der deutschen Versicherer als Rechtsanwälte zu vertreten.
Das Buch ist meines Erachtens fehlerhaft in vielerlei Beziehung sehr einseitig.
(cc)
Aber wie ist das jetzt richtig?
An dieser Stelle kommt es regelmäßig zu einem Missverständnis. Jeder von uns hat schon gehört, dass ein Arbeitsloser, wenn der weiter Arbeitslosengeld haben will, auch zumutbare Arbeit annehmen muss. Und wenn einer ein Arbeitsloser Musikerlehrer ist, aber nur eine Stelle als Straßenkehrer frei ist, dann muss er Straßen kehren. Wenn er das nicht tut, wird es mit seinem Arbeitslosengeld schnell Schwierigkeiten geben. Bis jetzt ist alles richtig.
(d)
Nur: Das gilt nur für die Frage, uns vom Arbeitsamt Arbeitslosengeld gibt oder nicht. Das ist in einem Sozialgesetzbuch, dem SGB III geregelt.
So, und jetzt kommt's: Das gilt nicht im Bereich des Schadensersatzrechtes. Und genau dort sind wir. Vergiss also, was gilt, wenn man Arbeitslosengeld haben will!
(e)
Ich vermute, Dein Mann hat keinen Büroberuf erlernt. Davon gehe ich aus für das weitere:
(f)
Daher könnte er in einem Büro auch nicht als Gelernter arbeiten. Ich habe schon viele Lehrlinge gehabt, die bei mir einen Büroberuf erlernt haben. Genauso wenig, wie man „einfach so“ als Automechaniker arbeiten kann, wenn man das nicht gelernt hat, genauso wenig geht es im Büroberuf. Davon kann ich als ehemaliger Lehrherr durchaus ein Lied singen.
(Ich bitte, ist mir zu verzeihen, dass ich mit den Begriffen „Azubi" und "Ausbildender" nicht allzu viel anfangen kann. Ich bleibe bei Lehrlingen und Lehrherr. Das ist nicht böse gemeint.)
(g)
Muss Dein Mann dann als Bürohilfsarbeiter arbeiten? Als Telefonist? Als Bürobote? Als Museumswärter? Als Kassier am Fußballstadion? Pförtner?
Antwort: Nein. Muss er nicht. Siehst Du, das ist der Unterschied zum Sozialrecht. Denn man verstößt nicht gegen die Schadensminderungspflicht, wenn er sagt:
"Ich habe vorher als gelernte Fachkraft, als Geselle des Kfz-Mecatronikerhandwerkes gearbeitet. Ich bin nicht verpflichtet, mich als Hilfsarbeiter, als Angelernter zu betätigen."
(h)
Bestimmt wirst Du antworten: „Naja, Isländer, Deine Ansichten, sehr schön. Aber würde das ein Richter auch sagen?"
Diese Frage ist sehr berechtigt.
(ha)
Ich orientiere mich, wenn ich hier im Forum etwas sage, an der Rechtsprechung des BGH und der Oberlandesgerichte, weil die anderen Gerichte (Amtsgerichte, Landgerichte)mit aller Wahrscheinlichkeit auch im Falle Deines Mannes der herrschenden Meinung diese hohen Gerichte folgen. Vor allem, wenn der BGH etwas mehrfach schon entschieden hat, dann ist es kaum zu erwarten, dass ein Gericht davon noch abweicht.
Deshalb, weil es darauf ankommt, berichte ich auf der Basis von BGH und den Oberlandesgerichten.
Das mache ich immer so. Wenn ich einmal ausnahmsweise meine eigene Meinung verbreite, diese aber von der herrschenden Meinung abweicht, dann sage ich auch das ganz deutlich.
(hb)
Was sagen also die Gerichte in Deutschland dazu? Sie sagen es genauso wie ich:
Oberlandesgericht Hamm, VersR 92/1120
Kammergericht (es hat den Rang eines Oberlandesgerichtes in Berlin): NZV 02/97
Bundesgerichtshof VersR 91/596
(hc)
Besonders hilfreich für Euch ist die Entscheidung den sogenannten "Heizungsbauer-Fall":
Sie stammt vom BGH (in: NZV 91/188), sehr daher auch viel Gewicht:
Was war da los?
Ein junger Mann war gerade Lehrling im 3. Lehrjahr. Es war wahrscheinlich, dass er seine Gesellenprüfung mit Erfolg bestanden hätte, und dann wäre er Geselle des Heizungsbauer-Handwerks gewesen. Also so ähnlich, was den Rang betrifft, wie es bei Deinem Mann ist. Denn auch Bei diesem Beruf ist die Lehrzeit besonders lange, wie bei den Beruf Deines Mannes auch: 3 1/2 Jahre.
Das ist also ein wunderschöner Beispielsfall!
Dann kam ein Unfall, und die Folge war, dass der Lehrling seine Lehre nicht mehr abschließen konnte. Es hat nämlich einen Gehirnschaden gegeben, der es ihm nicht mehr erlaubt hat, die Berufsschule mit Erfolg abzuschließen. Daraufhin wollte die Versicherung haben, dass er als ungelernter Helfer im Heizungsbau arbeitet. als Helfer hätte er noch arbeiten können. Das, was er da gegenüber einem Gesellen des Heizungsbauhandwerk weniger verdient, das hätte die Versicherung noch draufgelegt.
Der Bundesgerichtshof hat entschieden: Das ist nicht zumutbar! Deshalb muss es der Kläger auch nicht tun. Helfer im Heizungsbau, das ist keine Tätigkeit für einen Gelernten, sondern im Status eine Hilfsarbeitertätigkeit. Das sieht man am Gehalt, natürlich aber auch an den Aufgaben, die der Helfer hätte übernehmen können, und an der Verantwortung, die er bei seiner Arbeit trägt, an dem Status in der Firma.
(i)
Dann kann man aber immer noch überlegen, was los ist, wenn die Versicherung bereit wäre, eine Umschulung zu bezahlen, sodass ein Mann in einem 3-jährigen Lehrberuf, sagen wir einmal als Bürokaufmann arbeiten könnte?
Dann wäre er ja auch wieder als gelernte Fachkraft tätig.
Dazu müsste Dein Mann als Bürokaufmann talentiert sein.
Ob das überhaupt Sinn hat (ich weiß nicht, wie alt ein Mann schon ist) kann ich nicht sagen.
Es gäbe ein Argument, von dem ich noch nicht gehört habe, ob es schon jemals vor Gericht genutzt worden ist, ich bin der Meinung (Vorsicht: das ist jetzt meine Meinung), dass es sich immerhin hören lässt:
Wir haben in Deutschland Grundrechte. Zu den Grundrechten, die an der höchsten Stelle aller Gesetze stehen, gehört auch das Grundrechtder Berufswahlfreiheit. Es steht im Art. 12 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, also in der Verfassung. Da steht:
(1) Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. (....)
(2) Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht.
(3) Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig.
Ich bin der Auffassung: das kann man hintenrum einem Menschen über das Schadensersatzrecht nicht wieder nehmen. Jeder hat das Recht, sich einen Beruf auszusuchen, der ihm zusagt. Und etwas Freude macht.
Ich bin der Meinung, dass man einen Menschen, der sich als tätiger Handwerker wahrnimmt, der mit seiner Geschicklichkeit, seinem technischen Know-how, seinen Kenntnissen Technik bewältigt nicht zwingen kann, in einen Beruf zu gehen, der ihm zuwider ist und bei dem er jeden Tag in der Früh hofft, dass bald Feierabend ist.
Man hat doch nicht, nur weil man einen Unfall hat, das Recht verloren, sein Leben zu gestalten!
Ich kenne aber keine Entscheidung, in der dieser Gedanke einmal durchgearbeitet worden wäre.
Tipp:
Auch wenn Eure Rechtsanwältin möglicherweise nicht wirklich entzückt ist: Spätestens dann, wenn sie liest, dass dieser Beitrag auf der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte und des BGH beruht, weiß sie, dass es ernst zu nehmen ist.
ISLÄNDER