Triggerwarnung?
V*r*k**r*u**a**
Ich bin ein menschlicher Verkehrsunfall. Irgendwann bin ich einfach stehengeblieben, und dann sind Erlebnisse wie
LKWs in mich hineingefahren.
Man kann sich vorstellen, dass das zu großen Problemen
führt. Wenn man nicht ausweicht, geht das einfach
immer weiter. Der Unfall wird immer größer, immer unübersichtlicher, und irgendwann stehst du auf der Gegenfahrbahn und fragst dich, was eigentlich
zum Teufel gerade passiert ist. Das ist der Moment,
in dem du aussteigen solltest. Nicht das Aussteigen,
das in den Büchern steht, die man in Buchhandlungen
grundsätzlich in der Ratgeberecke findet. Nicht diese
Art Aussteigen, die etwas mit Kofferpacken
und In-den-Bauch-Atmen zu tun hat.
Dieses Aussteigen passiert einfach von allein.
Erst mal merkst du überhaupt nichts. Du räumst die Wohnung
auf, die Flaschen weg, und du atmest weiter ein, und du atmest
weiter aus, und du isst weiter dein Essen und rufst weiter
die Nummern in deinem Telefon an, und du gehst weiter
nach draußen, und du gehst weiter in dein Büro und in dein Bett,wenn es Zeit dafür ist. Du bemerkst die Schäden, aber weil
alles andere noch steht, weil die Autos noch fahren, die Busse
noch für dich halten, die Verkäuferin noch mit dir spricht,
weil du noch ausscheidest und schwitzt und dir die Schuhe
zubinden kannst und weil du keine einzige blutende Wunde
zu versorgen hast und weil kein einziger Schlauch in dir
steckt, denkst du, dass du noch ein bisschen weitermachen
kannst. Du bewegst dich langsam, aber du bewegst
dich, und dass sich das nicht ändert, beruhigt dich. Du putzt dir die Zähne, und du duschst deinen müden Körper, und du bekommst manchmal Kopfschmerzen, aber alles bewegt
sich, alles geht doch weiter, der Fernseher läuft doch noch, so schlimm kann es doch nicht gewesen sein. Unmerklich wirst du Woche für Woche ein bisschen mehr zu Zement, ein bisschen
mehr zu Beton, ein bisschen mehr zu dem Schatten hinter
dir. Aber du gehst weiter, denn das Gehen fühlt sich gut an, im Gehen fühlst du dich sicher, im Gehen hörst du deinen Atem und
grüßt auch manchmal irgendwen, denn du kennst ja Menschen,
du hast ja Freunde, du hast ja wen. Manchmal merkst du, dass etwas passiert ist, dass dir etwas zugestoßen ist, dass etwas
wehtut, dass sich etwas verschoben hat, dass du nicht mehr so bist, wie du vorher mal warst – aber weil du nie aufgeschrieben
hast, wer das jetzt noch mal genau gewesen sein soll, kann dir keiner beweisen, dass das stimmt. Also stimmt es vielleicht
auch einfach nicht.
Du trinkst. Du trinkst Wein, weil der so gut zum Essen
schmeckt, und das erste Glas zum Kochen und das zweite
Glas auf das Essen und das dritte auch und das vierte
auf die Liebe und das fünfte auf das Leben und das sechste
auf das sechste und das siebte auf die Flasche Wein.
Du schläfst jetzt immer schlechter, und du träumst von diesem
Unfall, der natürlich kein Verkehrsunfall war, sondern
nur ein unscheinbarer, winziger Moment in deinem Leben,
der gar nichts hätte bedeuten müssen.
Vielleicht war es einfach nur der Moment, in dem du gemerkt
hast, dass es jetzt schon sieben Jahre sind. Oder dieser
Moment, in dem der Sarg in dem Loch liegt und du die Erde darauf geschmissen hast. Oder dieser Moment, als sie dir gesagt
haben, dass es vorbei ist. Oder dieser Moment, als du es nicht geschafft hast. Oder dieser Moment, als du gefallen bist. Oder dieser eine Traum. Oder dieser andere Traum. Oder dieser
eine Mann. Oder dieser eine Wunsch. Dieser eine, verfluchte
Wunsch. Vielleicht war es nur einer dieser Momente.
Vielleicht war es auch keiner. Manchmal reicht nur ein winziger
Augenblick aus, um zu begreifen, dass nichts jemals
wieder so sein wird, wie es war. Und eines Morgens
stehst du dann vor dem Spiegel und siehst dich an und siehst das fahle Grau in deinen roten Augen, und du bleibst vor dem Spiegel stehen, du bleibst einfach stehen und bewegst
dich keinen Zentimeter mehr weiter.
Und damit fängt es an.
Es ist ja nicht so, als würde irgendetwas helfen.
Es ist ja nicht so, als würde es helfen, zu schreien oder zu beten
oder zu weinen oder zu laufen oder zu tanzen oder mit jemandem zu reden.
Doch, doch, bestimmt, du kannst reden. Du kannst unfassbar
viel reden. Du kannst dabei in weichen Sesseln sitzen, und jemand vor dir bekommt ein bisschen Geld dafür, dass
er dir zuhört, oder du kannst auf harten Stühlen in vollgestellten
Küchen sitzen und all dein Gerede über all die Gründe auf die Tische vor dir schmeißen, du kannst es dahinrotzen, dahinschmeißen, es zerlegen, sezieren, du kannst jeden
verdammten Augenblick auseinandernehmen und untersuchen,
du kannst nächtelang darüber reden, wann es passiert
ist, wann es noch mal passiert ist, dass du dich so furchtbar
erschrocken hast vor der Welt, vor den Menschen,
vor diesem Unfall, vor diesem einen Moment, dass du seitdem
ständig das Gefühl hast, nicht mehr richtig gehen zu können,
nicht mehr schnell genug sprechen zu können, nicht mehr
beschützt zu sein, nichts mehr einfach so machen zu können,
nichts mehr einfach so machen zu können – »einfach«?, nie
gehört. Du kannst immerzu und an jedem Ort darüber sprechen,
kannst Worte erbrechen, kannst behaupten und vermuten,
kannst laut denken und leise sprechen, kannst es flüstern
und kannst einfach deinen Mund nicht halten, aber niemals
wird dir jemand sagen können, warum du, genau du in diesem
Moment einfach nicht mehr funktionierst, warum du an diesem
Tag diese eine Sache gemacht hast, die diese andere Sache
ausgelöst hat, die wiederum diese weitere Sache hervorgerufen
hat, und warum all diese Sachen dich zu diesem Moment gebracht haben, der dazu geführt hat, dass sich die Schwere
und die Stille in dein Leben geschlichen haben, wie geruchloses
Gas in eine Wohnung, in der du ruhig schläfst und nichts riechst und nichts schmeckst und gar nicht bemerkst, wie du vergiftet
wirst. Niemand kann es dir sagen, und kein Wort wird helfen,
versprochen. Du sitzt bloß da und redest. Du sitzt bloß da und redest und vermutest, und manchmal vermutet jemand
mit, und manchmal glaubt sogar jemand, und immer
öfter weiß auch mal jemand etwas zu sagen, das du dann aufgreifst, angreifst, mitnimmst, ausprobierst, dir in den Gedanken-Tank kippst, denn du willst ja nicht so sein, du willst ja schneller sein, du willst ja nicht immer müde sein, immer
traurig sein, immer ängstlich sein, immer so am Ende sein, immer heulen, immer wieder von vorne anfangen müssen.
Du willst ja nicht jeden Morgen das Gefühl haben, dass du schon wieder ganz neu beginnen musst, dass jeder Tag so unvorstellbar riesig und unbezwingbar groß ist, dass du ihn gar nicht besiegen kannst, diesen Tag, du willst nicht jeden
Morgen aufwachen und das Gefühl haben, dass du viel zu klein für so große Tage und für so große Aufgaben bist, du willst lieber einfach weitermachen, so wie die anderen, du willst in diesen warmen Fluss zurück, in dem man einfach herumschwimmt und mitschwimmt und mitmacht
und morgens aufwacht und einfach aufsteht und weitermacht.
Keine Neuanfänge mehr, sondern nur noch Anschlüsse
an das Gestern, an das Vorgestern, an irgendwann letzten
Monat. Du nimmst jeden Ratschlag, jede Meinung, jeden
Tipp, all diese Worte nimmst du mit nach Hause, und du probierst sie alle aus.
Du gehst mal wieder raus.
Du machst mal wieder Sport.
Du isst keinen Weizen mehr, keinen Zucker, keine
Milchprodukte, kein Fleisch, keine künstlichen
Zusatzstoffe.
Du trinkst keinen Alkohol, keinen Kaffee und nur noch
Wasser aus Vulkansteinquellen.
Du machst Yoga.
Du liest Bücher.
Du redest darüber.
Du fährst in den Urlaub.
Du hast mal wieder Sex.
Du gehst spazieren.
Du streichelst Tiere.
Du meditierst.
Du bist nett.
Du bist so verdammt nett.
Du hast eine Struktur.
Du hast einen Tagesplan.
Du hast also Pläne, und du probierst alles aus. Das machst
du. Und du hast Hoffnung.
Du hast echt verdammt viel Hoffnung, dass das eines Tages
wieder weggehen wird. Die Angst. Die Müdigkeit. Diese
ständige, bleierne Müdigkeit. Bis hierhin hat schon mindestens einer von Therapie gesprochen. Dass ihm das »echt viel gebracht
« hat. Dass das »gar nicht so schlimm« ist, »wie alle immer
sagen «. Er könne dir da auch eine Telefonnummer
geben. Einfach mal hingehen.
Ein bisschen reden. Du siehst so müde aus in letzter
Zeit. Du siehst so abgekämpft aus in letzter Zeit. Du siehst so aus, als bräuchtest du echt mal jemanden zum Reden.
Du hast genickt. Ja, warum nicht. Jeder braucht ja mal jemanden zum Reden. Manchmal hast du dich gefragt,
warum du nicht einfach mit den anderen weiterreden
kannst. Wo die doch schon mal da waren. Aber du hast weiter
genickt. Immer alles abgenickt. Hilfe, hast du gedacht,
kriegt man ja überall. Wieso nicht einfach alles nehmen,
was man kriegen kann. Wieso nicht alles kriegen, was man nehmen kann.
Die Erde dreht sich trotzdem weiter mit 0,463 km/s. Sie rotiert
vierundzwanzig Stunden am Tag. Je näher man dem Äquator
kommt, desto leichter kann man in das Weltall abheben.
Auch du rotierst jeden Tag um die immer gleiche Achse,
drehst dich um dich selbst und in der immer gleichen
Bahn. Deine Gedanken kommen dir vor wie Planeten,
die sich um deine Erde drehen, und deine Haltlosigkeiten
wie missglückte Versuche, einmal anzuhalten, stillzustehen,
die zu nahe in die Nähe deiner Mitte geraten und dann einfach
ins All geschleudert worden sind. Diese Mitte, auf der die Oberfläche nur ein winziges Stückchen größer ist als auf dem ganzen Rest, die hast du sowieso längst verloren, die ist irgendwie überall und morgens in deinen Füßen, und abends liegt sie irgendwo zwischen deinem linken Ohrläppchen
und deinem rechten Mundwinkel. Ständig bist du damit
beschäftigt, die Dinge in die Nähe dieser Mitte zu rücken,
in die Nähe dieser Position, in der du vermutest,
dass dort vielleicht »richtig« und »genug« und »genau« liegen
könnte, aber sobald du dich in der Nähe wähnst, fliegen
dir diese Versuche einfach davon.
Ein Paradoxon, das dir schwer zu schaffen macht. Du weißt ja, dass du deine Mitte nicht findest. Du weißtja, dass, wenn du sie suchst, dir die Dinge entgleiten, die Versuche einer klaren Struktur, eines geregelten Tagesablaufs, dass sie jedes Mal einfach so davonfliegen, als würde dieser Vorgang einem Naturgesetz folgen, dem du dich verzweifelt entgegenstemmst, das du aber einfach nicht zu bezwingen vermagst. Eine Sisyphos-Tortur, die schon beinahe lächerlich wirkt, die du aber immer und immer wiederholst und die im Grunde nichts anderes bedeutet als: Jeder Versuch, einen Tag so zu verbringen, dass er mit dem eines Menschen vergleichbar wäre, dem die anderen nicht raten würden, psychiatrische Hilfe in Anspruch zu nehmen, scheitert schon bei dem kläglichen Unterfangen, vor dreizehn Uhr das Bett zu verlassen.
Prolog aus "Drüberleben- Depressionen sind doch kein Grund, traurig zu sein" von Kathrin Weßling