"BSG-Krankengeld-Falle" - endlich die Sensation !

Recht haben und Recht bekommen ist zweierlei!

Dies soll an der aktuellen - obigen - Entscheidung des Sozialgerichtes Speyer, 08.09.2014, S 19 KR 519/14 ER
http://www3.mjv.rlp.de/rechtspr/DisplayUrteil_neu.asp?rowguid=%7b14895B0B-9053-4B32-B33C-C249899B9C46%7d
verdeutlicht werden:

Entscheidend ist der Satz des Sozialgerichtes:

"Mit Bescheid vom 10.07.2014 teilte die Antragsgegnerin daraufhin das Ende des Krankengeld-
anspruchs mit."

Dieser Satz lässt aufhorchen, denn jeder mit dem SGB X halbwegs vertraute Leser – insbesondere jede/r Sozial-
richter/in – fragt sich zwangsläufig, was dies für ein Bescheid sein soll. Den Begriff des Ende- oder Beendigungs-
bescheides kennt das Gesetz nicht. Im Zusammenhang mit einem vorherigen Anspruch gibt es stattdessen Rück-
nahme-, Widerrufs- und Aufhebungsbescheide; ein unabhängig von einem vorherigen Anspruch negativer
Bescheid nennt sich Ablehnungsbescheid.

Obwohl sich die Richterin sehr detailliert mit dem materiellen Recht auseinandersetzte und auch feststellte, dass
im Leistungsfall des Antragstellers nicht von einer abschnittsweisen Bewilligung, jeweils befristet durch das vom
attestierenden Arzt prognostizierte voraussichtliche Ende der Arbeitsunfähigkeit, ausgegangen werden kann und
dass es kein Ende eines Bewilligungsabschnitts gab, ging sie – rechtlich völlig unsensibel – über diese wichtige
verfahrens-/formal-rechtliche Frage hinweg.

Stattdessen hätte sie – vollends – klären müssen, ob (bzw. dass) die Krankengeld-Bewilligung ein unbefristeter
Verwaltungsakt mit Dauerwirkung war und ob (bzw. dass) diese Bewilligung weiterhin wirksam ist, wenn (weil) sie
nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt
ist.

Aber offenbar hat der Mut, dem BSG zu widersprechen – hier zum Nachteil des Antragstellers, im Übrigen aber
zum Nachteil aller mit Krankengeld-Anspruch Versicherten – nicht bis ins Ziel gereicht. Das ist mehr als schade.

Recht haben und Recht bekommen ist also immer noch zweierlei – Würfeln wäre weniger ungerecht.

Gruß!
Machts Sinn
 
Feststellung der aufschiebenden Wirkung oder Erlass einer einstweiligen Anordnung

Nicht erst seit Norbert Blüm: Die Gerichte fordern und die Rechtsprechung! fördern

Absender, Datum




Telefax 0241 9425-80002
Sozialgericht Aachen
Adalbertsteinweg 92
52070 Aachen





Krankengeld von der AOK Rheinland / Hamburg
Antrag auf Feststellung der aufschiebenden Wirkung der Widerspruchs, hilfsweise auf Erlass einer einstweiligen Anordnung




Sehr geehrte Damen und Herren,


mit Bescheid vom 31.10.2014 – Anlage 1 – hat die AOK Rheinland / Hamburg die Krankengeldzahlung rückwirkend mit Ablauf des 24.10.2014 eingestellt und mitgeteilt, dass das Versicherungsverhältnis beendet ist. Ich habe am 03.11.2014 persönlich bei der Krankenkasse vorgesprochen und Widerspruch erhoben – Anlage 2 – . Obwohl ich um Berücksichtigung der aufschiebenden Wirkung und Bestätigung bis 05.11.2014 bat, habe ich keine Antwort erhalten.


Deswegen beantrage ich


1. festzustellen, dass der Widerspruch vom 03.11.2014 gegen den Bescheid vom 31.10.2014 aufschiebende Wirkung hat und das Krankengeld weiterhin zu gewähren ist

2. hilfsweise die Krankenkasse durch einstweilige Anordnung zur nahtlosen Weitergewährung des Krankengeldes zu verpflichten.


Zur Begründung mache ich vorab geltend, dass das Krankengeld keine Ermessensleistung ist, sondern nach den Bestimmungen des SGB X, speziell auch des § 32 Abs. 1 SGB X, durch Verwaltungsakt mit Dauerwirkung zusteht. In einen solchen Verwaltungsakt kann nicht bedingungslos rückwirkend eingegriffen werden. Anstelle einer einfachen Zahlungseinstellung ist außer einer Anhörung, § 24 SGB X, auch eine Rücknahme- oder Aufhebungsentscheidung, §§ 45, 48 SGB X, erforderlich. Für einen davon abweichenden Selbstvollzug des Gesetzes per abschnittsweiser Krankengeld-Bewilligung gibt es keine rechtliche Grundlage. Dazu wird auch auf die aktuelle Rechtsprechung der Sozialgerichte Trier, Mainz und Speyer sowie des 16. Senates des Landessozialgerichtes Essen verwiesen.

Folglich hat der Widerspruch nach § 86a Abs. 1 SGG aufschiebende Wirkung. Das bedeutet, dass das Krankengeld einstweilig weiter zu gewähren ist und damit auch das bisherige Versicherungsverhältnis fortbesteht.

Unter diesen Umständen wird wegen des damit verbundenen Aufwandes zunächst davon abgesehen, den Hilfsantrag sowohl zum Anordnungsgrund wie auch zum Anordnungsanspruch substantiiert zu begründen und die Angaben einzeln zu belegen. Falls es darauf aber ankommen sollte, wird um einen kurzen richterlichen Hinweis gebeten und schnelle Antwort zugesagt.

Bereits jetzt teile ich aber mit, dass ich mich im Verfahren der Privatinsolvenz befinde und dringend auf das Krankengeld angewiesen bin (Anordnungsgrund). Außerdem entbehrt die Krankengeldeinstellung unter Berücksichtigung der vier Urteile des LSG NRW vom 17.07.2014, auch in einem Fall des SG Aachen, S 14 KR 150/12 / L 16 KR 160/13, jeder rechtlichen Basis (Anordnungsanspruch).

Im Vergleich mit den LSG-Entscheidungen und mit den Urteilen der Sozialgerichte Trier, Mainz und Speyer, sind die – erstmals gegenteiligen – Entscheidungsgründe durch Urteil des Sozialgerichtes Koblenz vom 16.09.2014, S 13 KR 580/12, „sehr weit hergeholt“, ganz unabhängig davon, dass dieses Urteil auch im Übrigen Detailkenntnis des Krankengeldrechts vermissen lässt und es für die ablehnende Entscheidung des SG Koblenz zudem auf die Grundsätze des SGB X zum Vertrauensschutz angekommen wäre.

So liegt die verfassungsrechtlich bedenkliche Ungleichbehandlung der Krankengeld-Bezieher im Vergleich zu Beziehern anderer Leistungen zum Lebensunterhalt im Hinblick auf das Anhörungsrecht und den Schutz aus den §§ 45, 48 SGB X auf der Hand.

Wegen Verletzung des § 24 SGB X ist auf die Folgen aus § 42 SGB X zu verweisen. Danach kann die Aufhebung eines Verwaltungsaktes zwar allgemein nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist. Dies gilt jedoch ausdrücklich nicht, wenn die erforderliche Anhörung unterblieben oder nicht wirksam nachgeholt ist. Mit dieser Begründung wird die Korrektur beansprucht.

Zudem ist die frühere Krankengeld-Bewilligung weiterhin wirksam, weil der Verwaltungsakt nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist, § 39 Abs. 2 SGB X. Auch eine Umdeutung kommt mangels der Voraussetzungen des § 43 SGB X nicht in Betracht. Damit ist das bewilligte Krankengeld weiterhin fällig. Entgegen allgemein verbreiteter Praxis steht es nicht nachträglich für die Vergangenheit, sondern im Voraus für den laufenden Monat für die Dauer der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit zu, §§ 40, 41 SGB I.

Wegen der Eilbedürftigkeit dieses ER-/eA-Verfahrens können die Entscheidungen des Bundessozialgerichtes zu den Aktenzeichen B 1 KR 31/14 R, B 1 KR 35/14 R, B 1 KR 37/14 R nicht abgewartet werden. Zudem ist von der Klärung der Rechtsfrage: „Ist lediglich für die erstmalige Entstehung des Krankengeldanspruchs die ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit (AU) nach § 46 S 1 Nr 2 SGB 5 erforderlich und kommt es bei durchgehender AU allein darauf an, ob im gesamten Zeitraum objektiv AU bestanden hat?“ keine Antwort zur Umsetzung des Vertrauensschutzes nach den Vorschriften des SGB X in Krankengeld-Leistungsverfahren zu erwarten.

Falls weitere Angaben oder Unterlagen erforderlich sein sollten, wäre ich für eine kurze Mitteilung sehr dankbar.


Anlagen
1 Mehrfertigung
1 Bescheid-Kopie
1 Widerspruchs-Exemplar


Mit freundlichen Grüßen


….

Fundstelle: http://www.sozial-krankenkassen-ges...llung-von-Krankengeld/?postID=16577#post16577


Gruß!
Machts Sinn
 
Fall 1, B 1 KR 31/14 R: aus „Bescheinigung“ wird „Feststellung“ der AU

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Schon in der Terminvorschau hat sich das BSG den Sachverhalt zurecht gebogen,
obwohl es als Rechtsinstanz an die Feststellungen des LSG NRW gebunden, § 163 SGG.

Im Urteil des LSG NRW vom 17.07.2014, L 16 KR 429/13,
https://sozialgerichtsbarkeit.de/sgb/esgb/show.php?modul=esgb&id=171751
heißt es:

"Die Klägerin erkrankte arbeitsunfähig (au) mit dem 12.12.2008 (bis zum 13.12.2008).
Folgebescheinigungen wurden ausgestellt am 15.12.2008 bis 20.12.2008, am 22.12.2008
bis 31.12.2008, am 02.01.2009 bis 07.01.2009, am 06.01.2009 bis 10.01.2009, am 12.01.2009
bis 17.01.2009, am 16.01.2009 bis 24.01.2009, am 23.01.2009 bis 31.01.2009, am 03.02.2009
bis zum 09.02.2009 und am 09.02.2009 bis zum 15.02.2009."

Und was macht das BSG daraus? Es verbiegt


"Bescheinigung" in "Feststellung" der AU:


„Sie ließ ihre Arbeitsunfähigkeit (AU) ärztlich feststellen (am 12.12.2008 und in der Folgezeit,
ua am 16.1. bis 24.1., am 23.1. bis 31.1., am 3.2. bis 9.2. und am 9.2. bis 15.2.2009)."


Gruß!
Machts Sinn
 
"BSG-Krankengeld-Falle" und Gesetzes-Änderung

Mit dem GKV-Versorgungsstärkungsgesetz – GKV-VSG soll auch die „BSG-Krankengeld-Falle“ entschärft werden, § 46 SGB V:

http://www.bmg.bund.de/fileadmin/da...rgungsstaerkungsgesetz/141217_Entwurf_VSG.pdf

Aber es gibt Zweifel, ob das Kabinett oder zumindest Hermann Gröhe weiß, was sie da tun:

Künftig entschärfte "BSG-Krankengeld-Falle" für alle? Verdummt der VdK 1,7 Mio. Mitglieder und den Rest Deutschlands? - Krankengeld - Sozial-Krankenkassen-Gesundheitsforum

Gruß!
Machts Sinn
 
Papageien-Krankengeld-Rechtsprechung ist rechtswidrig !

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Die höchstrichterliche Rechtsprechung ist nicht Gesetzesrecht und erzeugt keine damit vergleichbare
Rechtsbindung. So beurteilen auch die Entscheidungen des 1. BSG-Senates im Zusammenhang mit
der „BSG-Krankengeld-Falle“ nur Einzelfälle und binden inter partes.

Die Auswirkungen höchstrichterlicher Rechtsprechung über den Einzelfall hinaus beruhen auf der
Überzeugungskraft ihrer Gründe sowie der Autorität und Kompetenz des Gerichts. Die Krankengeld-
Entscheidungen des BSG wirken nicht über den Einzelfall hinaus, weil sie nicht zur Klärung beitragen
und folglich nicht als Präjudiz für künftige Fälle bedeutsam sind. In ihrer argumentativen Einfalt und
mit konstruierten Fiktionen sind sie ausschließlich geeignet, Zweifel zu begründen.

Die unteren Instanzen sind an die höchstrichterliche Rechtsprechung – außerhalb der Bindungswirkung
der Revisionsentscheidung im konkreten Verfahren (vgl. § 170 Abs. 5 SGG) – somit nicht gebunden. Die
judikativen Akte des BSG eignen sich deswegen grundsätzlich nicht für die ungeprüfte Übernahme.

Aufgrund der Unabhängigkeit der Richter (Art. 97 GG) ist die Rechtspflege konstitutionell uneinheitlich.
Prozessbeteiligte haben Anspruch darauf, dass Richter Recht anwenden, statt sich mit aus konstruierten
Zusammenhängen gerissenen Sätzen auf nicht nachvollziehbar vorgegebene Judikatur des BSG zu
berufen.

Die Sozialgerichtsbarkeit hat deswegen nicht die Wahl, sondern die Pflicht, auch in jedem Kranken-
geld-Fall Recht anzuwenden und die Rechtsanwendung zu begründen.

Die langjährige Praxis, allein dem BSG zu gehorchen, ist schlicht rechtswidrig.

Gruß!
Machts Sinn
 
Hallo,

ist der Test von dir oder aus einer Quelle ?

Ich habe gerade den Anwalt gewechselt und hoffe in meiner 'BSG - Krankengeld-Falle ' Sache weiter zu kommen.

Gruss
 
Kompetenz des Gesetzgebers – Grundrechtsverstöße

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Die Krankengeld-Rechtsprechung des BSG ist verfassungsrechtlich bedenklich.


Argumentationsversuch auf der Basis des BVerfG-Beschlusses vom 15.01.2009, 2 BvR 2044/07:

Der 1. BSG-Senat hat die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Rechtsfindung zum Krankengeld offenbar bereits vor 10 Jahren völlig verkannt und vermeidet seitdem bessere Einsicht beharrlich. Damit greift er unter Verstoß gegen Art. 20 Abs. 2 und 3 GG nachhaltig in den Kompetenzbereich des Gesetzgebers über und verletzt mit Vorbildwirkung für die (fast) gesamte Sozialgerichtsbarkeit nach wie vor Betroffene in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip.

Nach Art. 20 Abs. 3 GG ist die Rechtsprechung an „Gesetz und Recht“ gebunden. Die durch Art. 97 Abs. 1 GG gewährleistete Unabhängigkeit der Richter dient der unparteiischen Gewährleistung der Gesetzesbindung in Streitfällen, gebunden an das Gesetz ist aber auch der Richter selbst. Beide Regelungen konkretisieren zum einen den Gewaltenteilungsgrundsatz und zum anderen das Demokratieprinzip. Mit diesen Vorgaben ist es unvereinbar, wenn sich die Gerichte aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben, also objektiv betrachtet sich der Bindung an Gesetz und Recht entziehen. Im Zusammenwirken zwischen Legislative und Judikative gebührt dem demokratischen, unmittelbar legitimierten Gesetzgeber der Vorrang.

Der Vorrang des Gesetzes verbietet dem Richter zwar nicht, das Recht fortzuentwickeln. Auch der unter dem Grundgesetz seit jeher anerkannten Befugnis der Gerichte zur Fortbildung des Rechts sind jedoch ihrerseits Grenzen gezogen. Das Bundesverfassungsgericht hat dazu festgestellt, dass eine richterliche Rechtsfortbildung, die den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstellt, ihren Widerhall nicht im Gesetz findet und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder stillschweigend gebilligt wird, unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers eingreift. Hat der Gesetzgeber eine eindeutige Entscheidung getroffen, so darf der Richter diese nicht aufgrund eigener rechtspolitischer Vorstellungen verändern und nicht durch eine judikative Lösung ersetzen, die so im Parlament nicht erreichbar gewesen wäre. Ob der Gesetzgeber eine solche eindeutige Entscheidung getroffen hat, kann nur durch Auslegung nach den anerkannten Methoden ermittelt werden. Dabei wird man von folgenden Grundsätzen auszugehen haben:

a) Ausgangspunkt der Auslegung ist der Wortlaut der Vorschrift. Er gibt allerdings nicht immer hinreichende Hinweise auf den (subjektiven oder objektivierten) Willen des Gesetzgebers. Erst im Zusammenhang mit Sinn und Zweck des Gesetzes wird die im Wortlaut ausgedrückte, vom Gesetzgeber verfolgte Regelungskonzeption deutlich, der sich der Richter nicht entgegenstellen darf. Seine Aufgabe beschränkt sich darauf, die intendierte Regelungskonzeption bezogen auf den konkreten Fall auch unter gewandelten Bedingungen möglichst zuverlässig zur Geltung zu bringen. In keinem Fall darf richterliche Rechtsfindung das gesetzgeberische Ziel der Norm in einem wesentlichen Punkt verfehlen oder verfälschen oder an die Stelle der Regelungskonzeption des Gesetzgebers gar eine eigene treten lassen.

b) Für die Beantwortung der Frage, welche Regelungskonzeption dem Gesetz zugrunde liegt, kommt neben den Gesetzesmaterialien und der Systematik des Gesetzes auch dem Verständnis der Vorschrift in der Praxis - zumal wenn es sich um ein einheitliches, über einen langen Zeitraum unverändertes Verständnis handelt - eine nicht unerhebliche Indizwirkung zu. Sieht sich die Rechtsprechung etwa über einen längeren Zeitraum an eine bestimmte gesetzliche Regelungskonzeption gebunden, dann darf dieser Umstand nicht völlig unbeachtet bleiben.

c) Die Eindeutigkeit der im Wege der Auslegung gewonnenen gesetzgeberischen Grundentscheidung wird nicht notwendig dadurch relativiert, dass der Wortlaut der einschlägigen Norm auch andere Deutungsmöglichkeiten eröffnet, soweit diese Deutungen offensichtlich eher fern liegen oder von der ganz überwiegenden Praxis zu keinem Zeitpunkt ernsthaft erwogen worden sind. Andernfalls wäre es für den Gesetzgeber angesichts der Schwierigkeit, textlich Eindeutigkeit herzustellen, nahezu unmöglich, sein Regelungsanliegen gegenüber der Rechtsprechung über einen längeren Zeitraum durchzusetzen.

d) Soweit der Gesetzgeber nach Erlass der Norm untätig geblieben ist, lässt sich aus diesem Umstand weder ohne Weiteres darauf schließen, er akzeptiere eine bestimmte beziehungsweise die gerade aktuelle Normanwendungspraxis, noch kann gar daraus gefolgert werden, er habe unter Verzicht auf sein Gestaltungsprimat eine Lösung des Sachproblems der Rechtsprechung überantwortet. Dem Gesetzgeber obliegt im Hinblick auf die Geltung einer Norm keine Pflicht, sein diesbezügliches Regelungsanliegen in bestimmten Zeitabständen aufs Neue zu bestätigen.

Die verfassungsgerichtliche Kontrolle erstreckt sich nicht auf jeden Fehler bei der Anwendung des Rechts. Insofern bestehen jedoch Unterschiede in der verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte im Hinblick auf bloße Rechtsanwendungsfehler einerseits und die bewusste und explizite Fortbildung des Rechts durch Bildung neuer Obersätze mit tatbestandlicher Fassung andererseits: Obwohl jeder Fehler der Fachgerichte in der Rechtsanwendung zumindest einen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 GG darstellt, beschränkt sich das Bundesverfassungsgericht aus funktionell-rechtlichen Erwägungen auf die Überprüfung der Frage, ob die Fachgerichte bei Auslegung und Anwendung des Rechts Grundrechte des Betroffenen in ihrer Bedeutung und Tragweite grundsätzlich verkannt haben oder sich die Entscheidung der Fachgerichte als objektiv willkürlich erweist. Denn das Bundesverfassungsgericht ist kein Superrevisionsgericht.

Bei der Überprüfung der richterlichen Fortentwicklung des Obersatzes geht es hingegen um die kompetenzrechtliche Abgrenzung zwischen der ersten und der dritten Gewalt, mithin um eine originär verfassungsrechtliche Frage. Hier muss das Bundesverfassungsgericht entscheiden, ob das Fachgericht einen hinreichend klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers hintangestellt und durch eine eigene, für vorzugswürdig erachtete Regelungskonzeption ersetzt hat und sich dadurch in verfassungswidriger Weise von seiner Gesetzesbindung löst. Dabei kommt es nicht darauf an, ob das judikative Modell zweckmäßiger oder sachgerechter als das gesetzliche Modell erscheint.

Dies verkennt der 1. BSG-Senat, wenn er § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V im Plural anwendet und die Begrifflichkeiten ohne Rücksicht auf die Wortlaut- und Inhaltsgrenze verändert, „Anspruch“ in „Ansprüche“, „Tag“ in „Tage“, ärztliche „Feststellung“ in ärztliche „Feststellungen“ und „Arbeitsunfähigkeit“ in „Arbeitsunfähigkeiten“, obwohl nach dem Gesetzeswortlaut – jeweils Singular – der Anspruch auf Krankengeld von dem Tag an entsteht, der auf den Tag der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit folgt.

Damit unterstellt das BSG, dass sich eine Arbeitsunfähigkeit aus mehreren Teil-Arbeitsunfähigkeiten für Zeiträume zwischen den Arztbesuchen zusammensetzt und so mehrmals festgestellt werden kann und muss, obwohl sich nach einmal festgestellter Arbeitsunfähigkeit weitere Beurteilungen zwangsläufig darauf beschränken, ob die bereits festgestellte Arbeitsunfähigkeit noch andauert. Wer als Arbeitsunfähiger auf Krankengeld angewiesen ist, muss die Hürde für das Entstehen des Krankengeld-Anspruchs folglich immer wieder von neuem überwinden. Ihm ist das Risiko aufgebürdet, über eine der künstlichen Hürden zu stolpern und den Krankengeld-Anspruch samt bisherigem Versicherungsverhältnis einzubüßen.

Das Demokratieprinzip und das Funktionsgefüge des Grundgesetzes nähmen nachhaltig Schaden, könnte sich die Rechtsprechung immer dann über die eindeutige gesetzgeberische Entscheidung hinwegsetzen, wenn sie die Konsequenzen einer solchen Entscheidung als „unzweckmäßig“ ansieht. Klar erkennbare gesetzgeberische Regelungskonzepte sind vom Richter zu respektieren; die Rechtsänderung ist dann allein Sache des Gesetzgebers.

Wer deshalb meint, es habe bei der verfassungsrechtlichen Überprüfung richterlicher Rechtsfortbildung lediglich eine Vertretbarkeitskontrolle stattzufinden, übersieht die zentrale Bedeutung, die dieser Frage für die Gewaltenbalance unter dem Grundgesetz schon dadurch zukommt, dass der Richter allein dem Gesetz unterworfen, ansonsten aber konstitutionell unabhängig ist. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat bereits früher betont, dass bei einer richterlichen Rechtsfortbildung im Hinblick auf Art. 20 Abs. 3 GG jedenfalls zu prüfen ist, ob das Fachgericht die gesetzgeberische Grundentscheidung respektiert hat und den anerkannten Methoden gefolgt ist.

Die richterliche Rechtsfortbildung unterliegt jenseits der Kompetenzfrage denselben inhaltlichen Verfassungsvorgaben, an die auch der demokratisch legitimierte Gesetzgeber gebunden ist.

Dient die vom Richter gewählte Lösung dazu, der Verfassung, insbesondere verfassungsmäßigen Rechten des Einzelnen, zum Durchbruch zu verhelfen, sind die Grenzen für richterliche Rechtsfortbildung weiter, da insoweit eine auch den Gesetzgeber treffende Vorgabe der höherrangigen Verfassung konkretisiert wird. Dagegen sind bei einer Verkürzung von Rechtspositionen des Einzelnen durch die von der Rechtsprechung gewählte Lösung die Grenzen für richterliche Rechtsfortbildung deutlich enger gesteckt und die Verantwortung des Bundesverfassungsgerichts für die Wahrung der Gesetzesbindung entsprechend gesteigert.

Nach diesen Maßstäben hat der 1. Senat des Bundessozialgerichtes seine verfassungsrechtlichen Kompetenzen überschritten, indem er ….


Fortsetzung folgt.


Gruß!
Machts Sinn
 
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