Der 1. BSG-Senat hat die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Rechtsfindung zum Krankengeld offenbar bereits vor 10 Jahren völlig verkannt und vermeidet seitdem bessere Einsicht beharrlich. Damit greift er unter Verstoß gegen Art. 20 Abs. 2 und 3 GG nachhaltig in den Kompetenzbereich des Gesetzgebers über und verletzt mit Vorbildwirkung für die (fast) gesamte Sozialgerichtsbarkeit nach wie vor Betroffene in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip.
Nach Art. 20 Abs. 3 GG ist die Rechtsprechung an „Gesetz und Recht“ gebunden. Die durch Art. 97 Abs. 1 GG gewährleistete Unabhängigkeit der Richter dient der unparteiischen Gewährleistung der Gesetzesbindung in Streitfällen, gebunden an das Gesetz ist aber auch der Richter selbst. Beide Regelungen konkretisieren zum einen den Gewaltenteilungsgrundsatz und zum anderen das Demokratieprinzip. Mit diesen Vorgaben ist es unvereinbar, wenn sich die Gerichte aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben, also objektiv betrachtet sich der Bindung an Gesetz und Recht entziehen. Im Zusammenwirken zwischen Legislative und Judikative gebührt dem demokratischen, unmittelbar legitimierten Gesetzgeber der Vorrang.
Der Vorrang des Gesetzes verbietet dem Richter zwar nicht, das Recht fortzuentwickeln. Auch der unter dem Grundgesetz seit jeher anerkannten Befugnis der Gerichte zur Fortbildung des Rechts sind jedoch ihrerseits Grenzen gezogen. Das Bundesverfassungsgericht hat dazu festgestellt, dass eine richterliche Rechtsfortbildung, die den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstellt, ihren Widerhall nicht im Gesetz findet und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder stillschweigend gebilligt wird, unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers eingreift. Hat der Gesetzgeber eine eindeutige Entscheidung getroffen, so darf der Richter diese nicht aufgrund eigener rechtspolitischer Vorstellungen verändern und nicht durch eine judikative Lösung ersetzen, die so im Parlament nicht erreichbar gewesen wäre. Ob der Gesetzgeber eine solche eindeutige Entscheidung getroffen hat, kann nur durch Auslegung nach den anerkannten Methoden ermittelt werden. Dabei wird man von folgenden Grundsätzen auszugehen haben:
a) Ausgangspunkt der Auslegung ist der Wortlaut der Vorschrift. Er gibt allerdings nicht immer hinreichende Hinweise auf den (subjektiven oder objektivierten) Willen des Gesetzgebers. Erst im Zusammenhang mit Sinn und Zweck des Gesetzes wird die im Wortlaut ausgedrückte, vom Gesetzgeber verfolgte Regelungskonzeption deutlich, der sich der Richter nicht entgegenstellen darf. Seine Aufgabe beschränkt sich darauf, die intendierte Regelungskonzeption bezogen auf den konkreten Fall auch unter gewandelten Bedingungen möglichst zuverlässig zur Geltung zu bringen. In keinem Fall darf richterliche Rechtsfindung das gesetzgeberische Ziel der Norm in einem wesentlichen Punkt verfehlen oder verfälschen oder an die Stelle der Regelungskonzeption des Gesetzgebers gar eine eigene treten lassen.
b) Für die Beantwortung der Frage, welche Regelungskonzeption dem Gesetz zugrunde liegt, kommt neben den Gesetzesmaterialien und der Systematik des Gesetzes auch dem Verständnis der Vorschrift in der Praxis - zumal wenn es sich um ein einheitliches, über einen langen Zeitraum unverändertes Verständnis handelt - eine nicht unerhebliche Indizwirkung zu. Sieht sich die Rechtsprechung etwa über einen längeren Zeitraum an eine bestimmte gesetzliche Regelungskonzeption gebunden, dann darf dieser Umstand nicht völlig unbeachtet bleiben.
c) Die Eindeutigkeit der im Wege der Auslegung gewonnenen gesetzgeberischen Grundentscheidung wird nicht notwendig dadurch relativiert, dass der Wortlaut der einschlägigen Norm auch andere Deutungsmöglichkeiten eröffnet, soweit diese Deutungen offensichtlich eher fern liegen oder von der ganz überwiegenden Praxis zu keinem Zeitpunkt ernsthaft erwogen worden sind. Andernfalls wäre es für den Gesetzgeber angesichts der Schwierigkeit, textlich Eindeutigkeit herzustellen, nahezu unmöglich, sein Regelungsanliegen gegenüber der Rechtsprechung über einen längeren Zeitraum durchzusetzen.
d) Soweit der Gesetzgeber nach Erlass der Norm untätig geblieben ist, lässt sich aus diesem Umstand weder ohne Weiteres darauf schließen, er akzeptiere eine bestimmte beziehungsweise die gerade aktuelle Normanwendungspraxis, noch kann gar daraus gefolgert werden, er habe unter Verzicht auf sein Gestaltungsprimat eine Lösung des Sachproblems der Rechtsprechung überantwortet. Dem Gesetzgeber obliegt im Hinblick auf die Geltung einer Norm keine Pflicht, sein diesbezügliches Regelungsanliegen in bestimmten Zeitabständen aufs Neue zu bestätigen.
Die verfassungsgerichtliche Kontrolle erstreckt sich nicht auf jeden Fehler bei der Anwendung des Rechts. Insofern bestehen jedoch Unterschiede in der verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte im Hinblick auf bloße Rechtsanwendungsfehler einerseits und die bewusste und explizite Fortbildung des Rechts durch Bildung neuer Obersätze mit tatbestandlicher Fassung andererseits: Obwohl jeder Fehler der Fachgerichte in der Rechtsanwendung zumindest einen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 GG darstellt, beschränkt sich das Bundesverfassungsgericht aus funktionell-rechtlichen Erwägungen auf die Überprüfung der Frage, ob die Fachgerichte bei Auslegung und Anwendung des Rechts Grundrechte des Betroffenen in ihrer Bedeutung und Tragweite grundsätzlich verkannt haben oder sich die Entscheidung der Fachgerichte als objektiv willkürlich erweist. Denn das Bundesverfassungsgericht ist kein Superrevisionsgericht.
Bei der Überprüfung der richterlichen Fortentwicklung des Obersatzes geht es hingegen um die kompetenzrechtliche Abgrenzung zwischen der ersten und der dritten Gewalt, mithin um eine originär verfassungsrechtliche Frage. Hier muss das Bundesverfassungsgericht entscheiden, ob das Fachgericht einen hinreichend klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers hintangestellt und durch eine eigene, für vorzugswürdig erachtete Regelungskonzeption ersetzt hat und sich dadurch in verfassungswidriger Weise von seiner Gesetzesbindung löst. Dabei kommt es nicht darauf an, ob das judikative Modell zweckmäßiger oder sachgerechter als das gesetzliche Modell erscheint.
Dies verkennt der 1. BSG-Senat, wenn er § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V im Plural anwendet und die Begrifflichkeiten ohne Rücksicht auf die Wortlaut- und Inhaltsgrenze verändert, „Anspruch“ in „Ansprüche“, „Tag“ in „Tage“, ärztliche „Feststellung“ in ärztliche „Feststellungen“ und „Arbeitsunfähigkeit“ in „Arbeitsunfähigkeiten“, obwohl nach dem Gesetzeswortlaut – jeweils Singular – der Anspruch auf Krankengeld von dem Tag an entsteht, der auf den Tag der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit folgt.
Damit unterstellt das BSG, dass sich eine Arbeitsunfähigkeit aus mehreren Teil-Arbeitsunfähigkeiten für Zeiträume zwischen den Arztbesuchen zusammensetzt und so mehrmals festgestellt werden kann und muss, obwohl sich nach einmal festgestellter Arbeitsunfähigkeit weitere Beurteilungen zwangsläufig darauf beschränken, ob die bereits festgestellte Arbeitsunfähigkeit noch andauert. Wer als Arbeitsunfähiger auf Krankengeld angewiesen ist, muss die Hürde für das Entstehen des Krankengeld-Anspruchs folglich immer wieder von neuem überwinden. Ihm ist das Risiko aufgebürdet, über eine der künstlichen Hürden zu stolpern und den Krankengeld-Anspruch samt bisherigem Versicherungsverhältnis einzubüßen.
Das Demokratieprinzip und das Funktionsgefüge des Grundgesetzes nähmen nachhaltig Schaden, könnte sich die Rechtsprechung immer dann über die eindeutige gesetzgeberische Entscheidung hinwegsetzen, wenn sie die Konsequenzen einer solchen Entscheidung als „unzweckmäßig“ ansieht. Klar erkennbare gesetzgeberische Regelungskonzepte sind vom Richter zu respektieren; die Rechtsänderung ist dann allein Sache des Gesetzgebers.
Wer deshalb meint, es habe bei der verfassungsrechtlichen Überprüfung richterlicher Rechtsfortbildung lediglich eine Vertretbarkeitskontrolle stattzufinden, übersieht die zentrale Bedeutung, die dieser Frage für die Gewaltenbalance unter dem Grundgesetz schon dadurch zukommt, dass der Richter allein dem Gesetz unterworfen, ansonsten aber konstitutionell unabhängig ist. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat bereits früher betont, dass bei einer richterlichen Rechtsfortbildung im Hinblick auf Art. 20 Abs. 3 GG jedenfalls zu prüfen ist, ob das Fachgericht die gesetzgeberische Grundentscheidung respektiert hat und den anerkannten Methoden gefolgt ist.
Die richterliche Rechtsfortbildung unterliegt jenseits der Kompetenzfrage denselben inhaltlichen Verfassungsvorgaben, an die auch der demokratisch legitimierte Gesetzgeber gebunden ist.
Dient die vom Richter gewählte Lösung dazu, der Verfassung, insbesondere verfassungsmäßigen Rechten des Einzelnen, zum Durchbruch zu verhelfen, sind die Grenzen für richterliche Rechtsfortbildung weiter, da insoweit eine auch den Gesetzgeber treffende Vorgabe der höherrangigen Verfassung konkretisiert wird. Dagegen sind bei einer Verkürzung von Rechtspositionen des Einzelnen durch die von der Rechtsprechung gewählte Lösung die Grenzen für richterliche Rechtsfortbildung deutlich enger gesteckt und die Verantwortung des Bundesverfassungsgerichts für die Wahrung der Gesetzesbindung entsprechend gesteigert.
Nach diesen Maßstäben hat der 1. Senat des Bundessozialgerichtes seine verfassungsrechtlichen Kompetenzen überschritten, indem er ….