Hallo,
Heute habe ich in meiner Tageszeitung wieder einen für uns sehr interessanten Artikel gefunden. Danke an die Redaktion, dass die Genehmigung zum Zitat gegeben wurde.
Wer die Geschichte liest, wird vielleicht in Zukunft doch mal genauer auf die Begleitzettel zu schauen und auch zu Hinterfragen, was unsere hochgelobte und gutverdienende Pharmaindustrie so alles an uns testet.
Gruß von der Seenixe
Heute habe ich in meiner Tageszeitung wieder einen für uns sehr interessanten Artikel gefunden. Danke an die Redaktion, dass die Genehmigung zum Zitat gegeben wurde.
Wer die Geschichte liest, wird vielleicht in Zukunft doch mal genauer auf die Begleitzettel zu schauen und auch zu Hinterfragen, was unsere hochgelobte und gutverdienende Pharmaindustrie so alles an uns testet.
Hier der Link zum Orginalbeitrag der Berliner Zeitung von heute.Im Strudel
Eine Frau hat eine unheilbare Nervenkrankheit, bekommt ein Medikament und erkrankt daraufhin noch schlimmer. Die Geschichte einer Behandlung
Silke Janovsky
STUTTGART. Es dauerte einige Wochen, ehe Pit Bresko* bemerkte, dass seine Frau sich verändert hat. Wo denn der Supermarkt sei, fragte sie ihn. Wer denn die fremde Frau am Telefon gewesen sei, fragte sie auch, obwohl es eine langjährige Bekannte war, die angerufen hatte. Sie wird momentan ein bisschen vergesslich sein, dachte Pit. Dann aber bekam er einen Anruf. Ein fremder Mann sagte am Telefon, Pits Frau warte am anderen Ende des Ortes auf ihn. Anja Bresko* wollte eigentlich nur schnell zum Bäcker gehen. Auf dem Rückweg hatte sie ihr Haus nicht wiedererkannt.
Es war Januar 2009, als Pit Bresko ahnte, dass diese Symptome nichts mit der Multiplen Sklerose (MS) zu tun haben, an der seine Frau seit Jahren erkrankt war. Er schrieb eine Mail an den Ärztlichen Direktor der Fachklinik für Neurologie in Dietenbronn, dem er Anjas Ausfälle schilderte. Noch am selben Tag rief der Professor ihn an: "Sie müssen sofort kommen", sagte er.
Es dauerte nur wenige Stunden, ehe der Arzt das diagnostizierte, was Pit längst befürchtet hatte. Seine Frau war an einer progressiven, multifokalen Leukenzephalopathie, kurz PML, erkrankt, einer Viruserkrankung des Gehirns. Gedächtnisverlust, Apathie oder auch Wesensveränderungen hatte er bei Anja vorher noch nie erlebt. Ausgelöst hat die Krankheit ein Medikament, das als hochwirksam gegen Multiple Sklerose gilt: Tysabri. Eine PML führt in der Regel zum Tod oder zu schweren Behinderungen, beschreibt der Hersteller des Medikaments Biogen Idec die Krankheit.
Bevor Anja Bresko Tysabri genommen hat, war sie wegen der Folgen ihrer MS körperlich eingeschränkt. Das Gehen fiel ihr schwer, ihre Bewegungen waren langsam und ruppig, in manchen Körperteilen hatte sie wenig Gefühl. Heute ist Anja, 43, ein Pflegefall. "Sie hat kein Zeitgefühl mehr, keinen Orientierungssinn, kein Kurzzeitgedächtnis", sagt Pit Bresko, 48, gelernter Einzelhandelskaufmann. Das Ehepaar lebt in einem kleinen Ort in der Nähe von Stuttgart. Anja ist seit mehreren Jahren berufsunfähig und bekommt keine Rente. Pit ist Alleinverdiener.
Gestützt auf ihren Rollator geht Anja Bresko unruhig durch die Wohnung. Sie sucht etwas. Was, das weiß nur sie - und auch nur solange, bis sie es auf halbem Weg wieder vergisst. Dann blickt sie sich irritiert um und lässt sich wieder auf die blaue Couch fallen. So geht das etwa fünf Mal binnen einer halben Stunde, während Pit erzählt, wie sie sich kennengelernt haben.
Seinen Augen hat er nicht getraut, als an einem Spätsommertag 1992 Anja seine kleine Werbedruckerei betrat. "Aushilfe gesucht" stand auf einem Schild im Schaufenster und dann kam da diese schöne Frau. Er stellte sie ein. Solche Frauen interessieren sich nie für Typen wie mich, dachte er damals und wunderte sich, als Anja das doch tat. Am 3. Oktober kamen sie auf einer WG-Party zusammen, eine Ost-West-Liebesgeschichte im Ländle. Die Hochzeit 2001 war dann eher pragmatischer Natur, wegen der Steuern. "Fläschle Sekt mit einem Freund, das wars", sagt Pit.
Immer neue Medikamente
Endlich erinnert sich Anja, was sie sucht: die Handcreme. Sie liegt vorne auf dem Tisch, zwischen den vielen Tablettenpackungen, die überall in der Wohnung in kleinen Stapeln zu finden sind. Hier oben, im vierten Stock eines kantigen Sechzigerjahrebaus hat man einen weiten Blick auf die Schwäbische Alb.
Angefangen hat alles damit, dass Anja Bresko die Welt doppelt sah. Das war Weihnachten 1995, Anja war damals 29 Jahre alt und zu Besuch bei ihrer Mutter in Leipzig. Der Augenarzt konnte nichts feststellen, überwies sie aber an einen Neurologen, der schnell den Befund hatte: eine Entzündung des Sehnervs, häufig das erste Anzeichen für eine Multiple Sklerose. Kurz darauf folgte die Diagnose.Weil bei MS-erkrankten Menschen die Blut-Hirn-Schranke durchlässig ist, kann das Immunsystem die weiße Hirnsubstanz angreifen und das Zentrale Nervensystem schädigen. Eine solche Entzündung nennt man Schub, meist wird sie mit Cortison behandelt. Zwar bessern sich dadurch die Beschwerden, doch ein Schaden bleibt oftmals trotzdem zurück.
Die nächsten beiden Jahre hatte Anja Bresko insgesamt 13 Schübe. Sie war öfter im Krankenhaus als zu Hause. Die folgenden Jahre wechselte sie immer wieder die Medikamente: Endoxan, Betaferon, Mitoxandron. Manche wirkten nur eine Zeit lang, andere überhaupt nicht. Multiple Sklerose ist unheilbar, man kann nur versuchen, den Fortschritt der Krankheit aufzuhalten. Im Winter 2007 hatte Anja einen erneuten Schub. Ihr war schwindelig, sie verlor das Gleichgewicht und musste sich bei der kleinsten Bewegung übergeben.
Das MS-Medikament Tysabri war damals seit anderthalb Jahren auf dem europäischen Markt. Weil nach der Erstzulassung in den USA Anfang 2005 erst zwei, dann drei Patienten an PML erkrankten, wurde es nach nur drei Monaten zurückgezogen. Da es später keine weiteren Fälle von PML gab, wurde das Medikament nach erneuter Prüfung Mitte 2006 wieder zugelassen. Seither galt Tysabri als Wundermittel, als Durchbruch im Kampf gegen die Multiple Sklerose. Als Anja Bresko im Dezember 2007 das Medikament zum ersten Mal bekam, wusste sie von den drei PML-Fällen, die man auf Tysabri zurückführte. Etwa 10 000 Patienten, so schätzte der Hersteller Biogen Idec damals, wurden mit Tysabri behandelt, das Risiko einer PML wurde im Beipackzettel mit 1 : 1 000 ausgeschrieben.
Anja und Pit erschien das Risiko gering im Vergleich zu der Wirkung: keine Entzündungen, keine Schübe, keine Behinderungen, keine Nebenwirkungen. Der Wirkstoff Natalizumab schließt bei MS-Patienten die Blut-Hirn-Schranke, so dass das Immunsystem nicht mehr das Hirn angreifen kann - Anja fühlte sich so gut wie lange nicht mehr. Ähnlich dürfte es den Anlegern von Biogen Idec ergangen sein. Im März 2007 lag die Aktie bei 43 US-Dollar, im Oktober bei rund 80. Heute sind es etwa 50 Dollar. Im Jahr 2007 hat Biogen allein mit Tysabri etwa 230 Millionen Dollar Umsatz gemacht, im Jahr 2009 knapp über eine Milliarde.
"Wir ändern die Leben von denen, die keine Hoffnung haben" kann man auf der Seite von Biogen Idec lesen. Doch das Geschäft mit der Hoffnung bekam Macken. Mitte 2008 wurde der erste neue PML-Fall unter Tysabri bekannt, mittlerweile sind nach Angaben der European Medicines Agency weltweit 52 Tysabri-Patienten betroffen, 14 alleine in Deutschland. Bisher 11 der 52 Betroffenen sind an den Folgen der Erkrankung gestorben.
Auffällig ist, dass PML-Patienten Tysabri über einen längeren Zeitraum, oft mehr als zwei Jahre, genommen haben. Ende März dieses Jahres wurde Biogen Idec von der FDA, der Arzneimittelzulassungsbehörde der Vereinigten Staaten, wegen "falscher oder irreführender" Webcasts, eine Art Infosendungen im Internet, abgemahnt. Man habe die Wirksamkeit des Medikamentes überbewertet und das Risiko einer ernsthaften Hirninfektion verharmlost, so der Vorwurf der FDA.
Anja Bresko war weltweit der fünfte PML-Fall, sie hat die Krankheit überlebt. Dem Professor in der Nervenklinik in Dietenbronn verdanke sie ihr Leben, sagt sie. Vier bis fünf Mal wurde Anjas Blut ausgewaschen, bis auch der letzte Rest Tysabri darin verschwunden war. Eine andere Behandlung gegen die Infektion gibt es derzeit noch nicht - man weiß zu wenig über das Virus, das bisher bei Aids-Erkrankten mit stark geschwächter Immunabwehr aufgetreten ist. Anjas Immunsystem musste sich völlig neu aufbauen und das Virus in den Griff bekommen. Tagelang lag sie wie weggetreten in ihrem Bett. Pit bestellte einen Notar ins Krankenhaus, "weil es verdammt brenzlig war", sagt er. Beide unterschrieben eine Patientenverfügung und eine Generalvollmacht. "Damit ich hätte handeln können, wenn sie gestorben wäre", sagt Pit. Drei Monate musste sie im Krankenhaus bleiben, so lange dauerte es, bis sie sich von der Infektion erholt hatte. Der Schaden, den die Krankheit in Anja Breskos Kopf angerichtet hat, die Demenz, bleibt für immer.
"Schauen Sie, das bin ich", sagt Anja und zeigt eine Mappe mit Fotos von sich, Bilder aus ihrer Zeit als Fotomodell. Schon damals, vor der Wende, als sie noch in Leipzig und Ostberlin lebte, hat sie gemodelt. Anja war auf den Titelblättern von Modische Maschen, einem DDR-Strickmagazin, und der Modezeitschrift Pramo. Auch für Günter Rössler, einen ostdeutschen Aktfotografen, hat sie posiert. "Das ist sozusagen der David Hamilton der DDR gewesen", sagt Pit und lächelt Anja an. Wenn man die beiden so in Anjas Model-Mappe blättern sieht, wirken sie wie an ein altes Ehepaar, das nur noch in der Vergangenheit lebt.
Es braucht einige Mühe, sich vorzustellen, dass die Frau auf den Fotos dieselbe ist, die neben einem sitzt. Anja sieht gut zehn Jahre älter aus, als sie ist. In ihren Gelenken hat sich Wasser gesammelt, durch das kurze Haar ziehen sich silberne Fäden. Nur wenn man genau hinsieht, erkennt man die großen blauen Augen der Frau, die von den Bildern lächelt, ihre wohlgeschwungenen Lippen, die zarte Haut. Auf den Fotos schaut Anja selbstbewusst, frech, verwegen, mondän, rätselhaft - Eigenschaften, die Fotografen in ihr gesehen haben mögen. Heute haben ihre Züge etwas Wohlwollendes, Gütiges, wie man es von alten Menschen kennt. Man fragt sich, woher sie diesen Gleichmut wohl nimmt. "Manchmal ist es ja gut, wenn man bestimmte Dinge immer wieder vergisst" sagt sie später.
Wenn Pit bei der Arbeit ist, zappt er ab und zu in seine Wohnung und schaut nach, was Anja gerade macht. Im Wohn- und Schlafzimmer hat er Webcams installiert, mit denen er einen Großteil der Wohnung im Blick hat. Er wusste sich nicht anders zu helfen. "Nachdem Anja aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war sie körperlich zwar wieder einigermaßen fit, aber extrem vergesslich", sagt er und nach einer kleinen Pause "eigentlich dement". Manchmal sieht er durch die Kamera, wie Anja eine halbe Stunde lang damit beschäftigt ist, sich ein Marmeladenbrötchen zu schmieren. Aufschneiden, Butter verstreichen, Marmelade auftun. Dann stellt sie es auf den Tisch und vergisst, es zu essen.
Ganz oft, sagt er, sitzt sie einfach nur am Tisch und träumt sich in ihre Welt. Sie bräuchte wieder eine Tagesstruktur, meint Pit. Aber wie soll das gehen, wenn jemand immer wieder aus der Zeit fällt? Pit hat Sorge, dass sie hinfällt, etwas anbrennen lässt oder vergisst, den Wasserhahn auszustellen. Anja sitzt neben ihm und lächelt.
Wie ein Kind
"Du musst jetzt deine Jacke anziehen, wir müssen los, zur Krankengymnastik", sagt er zu ihr und ein bisschen klingt es, als spräche er mit einem Kind. Wahrscheinlich passiert das zwangsläufig, wenn der Partner einen Teil seines Verstandes verliert. "Man gönnt sich ja sonst nichts", antwortet Anja und lacht über ihren Scherz. Es scheint, als freue sie sich selbst über diesen klaren Moment am meisten. Das erste Mal an diesem Tag kann man sich vorstellen, wie Anja vor ihrer Krankheit vielleicht war.
Später, als Anja in der Praxis ist, geht Pit in einem griechischen Restaurant am Neckar eine Kleinigkeit essen. Die Sonne scheint, die Bäume blühen, auf der Wiese spielen Kinder. "Früher dachte ich, dass wir vielleicht irgendwann einmal eine Familie werden," sagt er und erzählt von den Urlauben in Kenia, Ägypten und Südfrankreich. Er an der Seite der schönen Frau. Heute können sie noch nicht einmal mehr zusammen in ein Konzert gehen.
"Die PML ist so viel gemeiner als jede MS", sagt Pit und er klingt zum ersten Mal ein wenig bitter. "Ich frage mich, warum Hersteller eines Medikamentes nicht für die Schäden, die es anrichtet, haften müssen", sagt er. Wenn ein Flugzeug abstürze, habe man vorher ja auch von den Risiken eines Fluges gewusst und dennoch stehe die Airline in der Pflicht. Abends, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt, macht er den Haushalt und verschwindet danach oft in seinem Arbeitszimmer. Pit kennt alle MS-Foren und -Gesellschaften, hält Kontakt zu Selbsthilfegruppen, jagt den neuesten Entwicklungen der Forschung hinterher. Wenn er von Anjas Krankheit redet, klingt er selbst wie ein Fachmann. Ihren "ehrenapprobierten Neurologen" nennt seine Frau ihn. Sein Handy klingelt, Anja ist fertig.
Nach der Krankengymnastik geht es Anja immer viel besser als vorher. Auf dem Heimweg im Auto wagt Pit ein Ratespiel. "Zwei mal sechs?" - "Das ist zwölf", antwortet sie. - "Und drei mal sieben?" - "Moment, einundzwanzig!" - "Super! Jetzt etwas Schweres. Was ist zwei mal acht minus drei?" Schweigen. "Augenblick, ich habe es gleich. Moment noch ... das ist dreizehn!" Beide lachen, während Pit das Auto über die Landstraße lenkt. Heute ist ein guter Tag.
*Namen von der Redaktion geändert
Gruß von der Seenixe