Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei einer versäumten Klagefrist
Die Entscheidung aus dem Prozessrecht betrifft die Nichteinhaltung einer Klagefrist infolge einer nicht ordnungsgemäßen Büroorganisation und die Verneinung einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
Leitsatz: Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand scheidet aus, wenn der Prozessbevollmächtigte durch seine Büroorganisation nicht sichergestellt hat, dass eine an einem Samstag eingehende Sendung auch den Eingangsstempel dieses Samstages und nicht den des darauffolgenden Werktages erhält. BSG-Urteil vom 27.5.2008 B 2 U 5/07 R
Sachverhalt
Die beklagte BG stellte einen Widerspruchsbescheid mit Postzustellungsurkunde am Samstag, dem 24.12.2005 (Heiligabend), zu, indem dieser in den Kanzleibriefkasten des von der Klägerin bevollmächtigten Rechtsanwalts eingelegt wurde. An diesem Tag hielt sich niemand im Büro auf. Die gegen diesen Bescheid gerichtete Klage ging am 27.1.2006 beim Sozialgericht ein. Das Sozialgericht und das Landessozialgericht haben dem Klagebegehren aus hier nicht näher interessierenden materiell- rechtlichen Gründen nicht stattgegeben. Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht die Klägerin hinsichtlich von Zweifeln an der Einhaltung der Klagefrist – diesbezüglich wurde sie erstmals im Revisionsverfahren konfrontiert – geltend, dass der Widerspruchsbescheid von einem fachlich geschulten und zuverlässigen Büroangestellten erst am nächsten Werktag, dem 27.12.2005, aus dem Briefkasten entnommen und mit dem aktuellen Eingangsstempel vom 27.12.2005 versehen worden wäre.
Weiterhin sei als Fristablauf der 27.1.2006 sowie eine Vorfrist für den 21.1.2006 und eine weitere Frist für den 25.1.2006 eingetragen worden. Dabei sei versehentlich nicht das Zustellungsdatum vom 24.12.2005, sondern das Datum des Eingangsstempels – 27.12.2005 – zugrunde gelegt worden. Wegen der sonst sorgfältigen und fehlerlosen Arbeit der Büroangestellten habe für den bearbeitenden Rechtsanwalt also keine Veranlassung bestanden, die Richtigkeit der Frist zu überprüfen. Daher sei erst am 27.1.2006 Klage eingereicht worden. Das BSG ist im Revisionsverfahren – in dem die Zulässigkeit der Klage von Amts wegen zu prüfen ist – hingegen von der Unzulässigkeit der Klage ausgegangen und hat eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abgelehnt.
Die Klagefrist beträgt gem. § 87 Abs. 1 S. 1 SGG einen Monat nach Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides. Der Widerspruchsbescheid wurde durch Zustellung per Postzustellungsurkunde bekannt gegeben. Er gilt daher über § 3 Abs. 2 S. 2 des Verwaltungszustellungsgesetzes i.V.m. § 180 S. 2 ZPO mit der Niederlegung im Briefkasten – hier am 24.12.2005 – als zugestellt (Zustellungsfiktion). Das bedeutet, dass es für die Wirksamkeit der Zustellung nicht darauf ankommt, ob und wann der Betroffene von dem zugestellten Schriftstück tatsächlich Kenntnis erlangt hat. Da der Widerspruchsbescheid somit mit dem 24.12.2005 als bekannt gegeben zugestellt gilt, endete die Klagefrist nach § 87 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 64 Abs. 2 S. 1 SGG am Dienstag, 24.1.2006. Der Klageeingang am 27.1.2006 beim Sozialgericht war daher verfristet. Auch eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gem. § 67 SGG (im Vorverfahren gilt § 27 SGB X) komme nicht in Betracht, da die Klägerin nicht im Sinne von § 67 Abs. 1 SGG ohne Verschulden verhindert hat, die Klage fristgerecht zu erheben. Ein Verschulden – so das BSG – liege vor, wenn der Beteiligte hinsichtlich der Fristwahrung diejenige Sorgfalt außer Acht lasse, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden im Hinblick auf die Fristwahrung geboten ist und ihm nach den gesamten Umständen des konkreten Falls zuzumuten war. Es hat zunächst darauf hingewiesen, dass sich der Beteiligte das Verhalten seines Prozessbevollmächtigten wie eigenes Verschulden zurechnen lassen muss – § 73 Abs. 4 SGG i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO – (im Sozialverwaltungsverfahren ergibt sich dies aus § 27 Abs. 1 Satz 2 SGB X). Für ein Verschulden von Hilfspersonen – hier der Büroangestellten – gelte dasselbe dann, wenn dieses vom bevollmächtigten Rechtsanwalt selbst zu vertreten, also als dessen eigenes Verschulden anzusehen sei. Das ist u.a. dann der Fall, wenn die Nichteinhaltung der Frist darauf beruht, dass der Rechtsanwalt es versäumt hat, ausreichende Vorkehrungen für eine zuverlässige Büroorganisation, insbesondere hinsichtlich der Frist- und Terminüberwachung und der Ausgangskontrolle zur Vermeidung von Fristversäumnissen, zu treffen. Im vorliegenden Sachverhalt treffe den Prozessbevollmächtigten ein der Klägerin zuzurechnendes Organisationsverschulden. Überlässt ein Rechtsanwalt – was grundsätzlich möglich und zulässig ist – einer gut ausgebildeten und zuverlässigen Bürokraft die Führung eines Fristenkalenders, dann muss er durch entsprechende Weisungen sicherstellen, dass Fehlerquellen bei der Berechnung soweit wie möglich ausgeschlossen sind. Dies sei hier nicht geschehen. Zunächst ist, so das BSG, nicht vorgetragen worden, dass eine Weisung bestehe, als Datum des Eingangs immer das Zugangsdatum zu bestimmen. Als Fehler der Bürokraft sei hier zwar für eine Verschuldenszurechnung unter Ehegattens. BSG-Urteil vom 23.01.2008, B 10 EG 6/07 R, NZS 2009, S. 178 ff. 12 Hierzu auch BSGE 61, S. 213 ff. 13 S. z.B. Keller, Meyer-Ladewig, Komm. SGG, 9. Aufl. Rn. 8 ff. RV 4/2009 74 Rechtsprechung nicht die Abstempelung mit einem vom tatsächlichen Zugang abweichenden Datum, sondern die Zugrundelegung dieses Datums bei der Fristberechnung anzusehen. Wenn jedoch durch eine (unzulängliche) Büroorganisation nicht sichergestellt werde, dass eine am Samstag eingegangene Sendung auch den Eingangsstempel dieses Samstages, sondern den Stempel des darauffolgenden Werktages erhalte, ist durch diesen Organisationsmangel ein Potenzial für Fehler bei der Fristberechnung geschaffen worden, das hier gerade realisiert worden ist. Der Fehler der Angestellten sei also ursächlich durch die fehlerhafte Büroorganisation ausgelöst und war somit dem Prozessbevollmächtigten zuzurechnen.
Der Entscheidung ist zuzustimmen. Zunächst sei allgemein darauf hingewiesen, dass der Beginn der Klagefrist regelmäßig nach dem Tage der Zustellung oder Bekanntgabe zu laufen beginnt, und zwar unabhängig davon, auf welchen Tag die Bekanntgabe fällt. Dies ergibt sich aus § 64 Abs. 1 SGG. Lediglich das es verschiebt sich dann, aber nur dann, wenn das Fristende auf einen Samstag, Sonn- oder Feiertag fällt (§ 64 Abs. 3 SGG). Durch die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird die Rechtzeitigkeit einer tatsächlich verspätet vorgenommenen Handlung fingiert. Die Wiedereinsetzung bewirkt, dass die negativen Folgen eines Fristversäumnisses beseitigt werden. Da die in den gesetzlichen Vorschriften enthaltenen Fristen (nicht Ausschlussfristen) schon aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit einzuhalten sind, müssen schon vom Regelfall deutlich abweichende Umstände eingetreten sein, die eine Wiedereinsetzung rechtfertigen. Insoweit sind für ein nicht verschuldetes Verhalten hohe Hürden zu überwinden. Das BSG und auch der BGH haben zudem in ständiger Rechtsprechung strenge Anforderungen für eine sorgfältige und zuverlässige Büroorganisation aufgestellt. Diese Kriterien betreffen hinsichtlich der Sachkunde und Zuverlässigkeit das Büropersonal und sind auch bezüglich der Auswahl, Kontrolle und Überwachung des Personals von den Prozessbevollmächtigten zu beachten. Im eigenen Interesse – auch zur Vermeidung von Haftungsansprüchen – muss daher der Rentenberater oder Rechtsanwalt für eine ausreichende Büroorganisation Sorge tragen.