ist zwar alt aber intressant....
Gericht: BGH 1. Strafsenat
Entscheidungsdatum: 29.01.1957
Aktenzeichen: 1 StR 333/56
Dokumenttyp: Urteil
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 7. Juni 1956 mit den Feststellungen aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an das Landgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe
1Der Angeklagte ist wegen Ausstellung unrichtiger Gesundheitszeugnisse (§ 278 StGB) zu drei Monaten Gefängnis verurteilt, die Strafe ist zur Bewährung ausgesetzt worden.
2I. Seine auf die Verletzung des sachlichen Rechts gestützte Revision führt aus folgenden Gründen zur Aufhebung des Urteils:
31.) Der Angeklagte erstattete dem Versorgungsamt, bei dem er als Vertragsarzt angestellt war, insgesamt 2690 fachärztliche Gutachten. In 137 dieser Gutachten trug er unrichtige Befunde ein, davon "in zahlreichen Fällen" vorsätzlich. Danach fehlt es an einer klaren Feststellung des Schuldumfangs. Lägen die Fälle, in denen der Angeklagte vorsätzlich und somit in strafbarer Weise gehandelt hat, vor dem 1. Dezember 1953, so wäre er sogar straffrei (§§ 1, 2 Abs 2 und Abs 3 StrFG 1954; § 358 Abs 2 StPO). Das Landgericht wird daher ermitteln müssen, wieviel ärztliche Zeugnisse mindestens der Angeklagte vorsätzlich unrichtig ausgestellt hat und wann. Läßt sich nicht feststellen, daß er sie sämtlich vor dem 1. Dezember 1953 ausgestellt hat, so schließt das die Straffreiheit - wie jede andere Ungewißheit über ihre Voraussetzungen - aus.
42.) Die Strafkammer hält für "schwer vorstellbar", daß der Angeklagte die Rechtswidrigkeit seines Verhaltens nicht erkannt habe. "Selbst wenn" dies aber zutreffe, so berühre ein solcher "äußerst leichtfertiger" Irrtum nicht den "Vorsatz". Hiernach ist unklar, was die Strafkammer annimmt: ob der Angeklagte bewußt rechtswidrig handelte oder ob er zwar das Unrechtmäßige seines Verhaltens nicht erkannte, diese Unkenntnis aber fahrlässig verschuldet hat. Für den letzterwähnten Fall hätte die Strafe nach § 44 Abs 3 StGB gemildert werden können (BGHSt 2, 194, 209 ff). Das Urteil läßt nicht erkennen, daß das Landgericht von dieser rechtlichen Möglichkeit keinen Gebrauch machen wollte.
5Übrigens berührt der Verbotsirrtum nach der Schuldlehre, der der Bundesgerichtshof folgt, niemals den Vorsatz, sondern die Schuld im weiteren Sinne. Ist er unverschuldet, so schließt er diese aus (nicht den Vorsatz); ist er verschuldet, so mindert er sie.
63.) In den Strafzumessungsgründen geben gewisse Wendungen ("wohl", "vielleicht", "die Möglichkeit ist nicht auszuschließen") dem Zweifel Raum, ob das Landgericht Umstände, die nur als möglich in Betracht gezogen wurden, zu Ungunsten des Angeklagten erwogen hat. Das wäre unzulässig, weil im Zweifel zu seinen Gunsten zu entscheiden ist.
7II. Die eigenen Ausführungen können der Revision nicht zum Erfolg verhelfen.
81.) Richtig ist nur ihr Ausgangspunkt: daß es sich bei den Gutachten des Angeklagten, die dem Versorgungsamt als Grundlage für Bescheide über die Bewilligung von Renten, Kapitalabfindungen und Heilkuren dienten, um Zeugnisse eines Arztes über den Gesundheitszustand von Henschen handelt; denn er teilte darin außer der Krankengeschichte des Antragstellers die Ergebnisse bestimmter Einzeluntersuchungen mit und äußerte sich vom fachärztlichen Standpunkt aus zu dem so dargestellten Gesamtbefund, insbesondere zu einer etwaigen Erwerbsminderung des Antragstellers. Ein Zeugnis über den Gesundheitszustand eines Henschen im Sinne des § 278 StGB ist aber sowohl die Bescheinigung über das Ergebnis einer Einzeluntersuchung z.B. eines bestimmten Körperteils oder -organs als auch die ärztliche Beurteilung des Untersuchungsergebnisses, insbesondere nach seinen Wirkungen auf das Gesamtbefinden des Untersuchten; demzufolge umfaßt es auch die Mitteilung der an Hand des festgestellten Befundes überprüften Krankengeschichte (u. a. RGSt 19, 364 f; 24, 284 f; 32, 295; 33, 293 ff; RG GA 54, 292 f; BGHSt 6, 90, 92).
92.) Vergeblich bekämpft die Revision jedoch die Rechtsansicht des Landgerichts, daß die vom Angeklagten erstatteten fachärztlichen Gutachten in den erwähnten Fällen unrichtig sind. Allerdings hat die Strafkammer in keinem Falle feststellen können, daß der Angeklagte den Gesundheitszustand der von ihm begutachteten Personen im Ergebnis nicht zutreffend beurteilt hätte. Vielmehr waren die einzelnen Unrichtigkeiten in seinem Gutachten zum weitaus größten Teil auf die Gesamtbeurteilung ohne Einfluß; nur in acht Fällen ist die Frage offen geblieben. Hit Recht hat das Landgericht jedoch diesem Umstand keine Bedeutung dafür beigemessen, ob die Gesundheitszeugnisse des Angeklagten im Sinne des § 278 StGB unrichtig sind. Denn dazu genügt schon, daß der Arzt Einzelbefunde wahrheitswidrig bescheinigt, sei es daß sie anders, sei es daß sie überhaupt nicht erhoben worden sind (RGSt 74, 229, 231; BGBSt 6, 90, 92). So verfuhr der Angeklagte. Zwar gab er in seinen Gutachten verfälscht auch solche Befunde wieder, die nicht von ihm, sondern unter anderer Verantwortung (z.B. im Laboratorium des Versorgungsamts) ermittelt worden waren; und freilich fällt ein solches Verhalten, für sich betrachtet, nicht unter § 278 StGB. Aber der Angeklagte verfälschte durch die unrichtige Angabe von Einzelergebnissen - sowohl der als von ihm selbst erhoben wie auch der als anderweit ermittelt ausgegebenen - zugleich die jeweilige Grundlage seiner Gutachten. Denn während diese den Anschein erweckten, als beträfen sie den Gesundheitszustand des Antragstellers, wie er sich in den Einzelbefunden spiegelte, bezogen sie sich in Wirklichkeit auf ein in Einzelheiten anders oder gar nicht festgestelltes Gesundheitsbild. Ein ärztliches Gutachten von der Art, wie der Angeklagte sie zu erstatten hatte, ist jedoch - das führt die Revision mit Recht aus - ein gedanklich in sich geschlossenes, einheitliches Ganzes. Es kann nur einheitlich beurteilt werden. Gerade deshalb ist es aber nicht bloß unrichtig, wenn es zu einem falschen Ergebnis kommt, sondern entgegen der Ansicht der Revision auch schon dann, wenn es in Einzelheiten, insbesondere in tatsächlichen Grundlagen Fehler aufweist, gleichviel ob diese das Endergebnis beeinträchtigen oder es letztlich unberührt lassen. Ähnlich sieht § 244 Abs 4 Satz 2 StPO ein Gutachten in seinem Beweiswert als entkräftet an, wenn es "von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht". Ob bei Unstimmigkeiten von ganz untergeordneter Bedeutung eine Ausnahme gemacht werden könnte, mag dahinstehen. In den Gutachten des Angeklagten waren die Einzelbefunde von wesentlicher Bedeutung. Sie sollten es den Prüfärzten des Versorgungsamtes ermöglichen, über den durch sie dargelegten Gesundheitszustand des Antragstellers sich ein eigenes Urteil zu bilden, das Gutachten des Angeklagten zu überprüfen und gegebenenfalls Ergänzungen oder sonstige Nachtragsfeststellungen zu veranlassen, damit dem Versorgungsamt bei seiner Entscheidung desto sicherere Unterlagen zur Verfügung standen. Das hat der Angeklagte durch sein Verhalten verhindert.
103.) Der Senat kann der Revision ferner nicht in der Ansicht folgen, § 278 StGB beziehe sich nur auf solche Gesundheitszeugnisse, die ein Arzt (oder eine andere approbierte Medizinalperson) einem Dritten zum Gebrauch bei einer Behörde (oder bei einer Versicherungsgesellschaft) ausstellt; die Vorschrift betreffe nicht einen Sachverhalt wie hier, bei dem der Arzt kraft eines Vertragsverhältnisses zu der Behörde dieser selbst, innerdienstlich, Zeugnisse der erwähnten Art erstattet. Das Gesetz unterscheidet nicht, in wessen Auftrag der Arzt das Zeugnis ausstellt und von wem und in welcher Weise er dafür entlohnt wird, für das einzelne Zeugnis oder nach Zeitabschnitten. Es mag sein, daß dem § 278 StGB, der auf § 257 PrStGB und über diese Vorschrift hin auf Art 160 code penal zurückgeht, nach den damaligen Lebensverhältnissen die Vorstellung zugrunde lag, es werde sich an den Arzt regelmäßig jemand wenden, der ein Gesundheitszeugnis zum Gebrauch bei einer Behörde benötigt. Daß sich damit der Anwendungsbereich der Vorschrift auf diesen "Normalfall" beschränke, kann der Revision jedoch nicht zugegeben werden. Kein Gesetz verträgt eine starre Begrenzung seiner Anwendbarkeit auf solche Fälle, die der vom Gesetzgeber ins Auge gefaßten Ausgangslage entsprechen; denn es ist nicht toter Buchstabe, sondern lebendig sich entwickelnder Geist, der mit den Lebensverhältnissen fortschreiten und ihnen sinnvoll angepaßt weitergelten will, solange dies nicht die Form sprengt, in die er gegossen ist (RGSt 12, 371 f; BGHSt 1, 1). Der Wortlaut des § 278 StGB ("zum Gebrauch bei einer Behörde") erlaubt es ohne weiteres, darunter auch Fälle von der Art des hier gegebenen zu begreifen. Der Sinn und der Zweck des Gesetzes verlangen das; denn diese Vorschrift will die Beweiskraft ärztlicher Zeugnisse sichern, die sum Gebrauch bei Behörden oder Versicherungsgesellschaften bestimmt sind - bei Einrichtungen, die zum eigenen Vorteil zu täuschen eine gewisse Neigung besteht (RGSt 32, 295, 297 f; 74, 229, 231). Die vertragliche Anstellung des Arztes bei einer Behörde soll diese Sicherung verstärken. Sie soll dem Arzt eine gesicherte Lebensgrundlage verschaffen, ihn vom Wechsel der Einkünfte unabhängig machen, ihn dadurch Wünschen nach ungesetzlicher ärztlicher Hilfeleistung unzugänglich erhalten und somit seine Vertrauenswürdigkeit und die Beweiskraft seiner Gesundheitszeugnisse gegenüber der Behörde erhöhen. Es würde den Gesetzeszweck auf eine seltsame Weise verfehlen, wenn gerade eine solche Maßnahme Gesundheitszeugnisse der erwähnten Art dem strafrechtlichen Schutz entzöge und damit in ihrer Beweiskraft entscheidend schwächte.
114.) Schließlich gehört es entgegen der Meinung der Revision nicht zum Tatbestand des § 278 StGB, daß der Arzt das Zeugnis in der Absicht unrichtig ausstellt, die Behörde oder die Versicherungsgesellschaft dadurch zu einer sachlich nicht gerechtfertigten Maßnahme zu veranlassen, die sie sonst nicht treffen würde. Auch wenn in dem Zeugnis, z.B. weil der Antragsteller sein wirkliches Gebrechen aus bestimmtem Grunde verschweigen will, eine andere Gesundheitsschädigung bescheinigt ist, die denselben Erfolg verbürgt, oder wenn das erstrebte Ziel mit dem unrichtigen Zeugnis - für den Arzt erkennbar - überhaupt nicht erreichbar ist, handelt dieser dem § 278 StGB zuwider. Eine Absicht, wie sie die Revision verlangt, ist nicht einmal Tatbestandsmerkmal des § 279 StGB. Vielmehr genügt dort die Absicht, über den "Gesundheitszustand" zu täuschen; das Streben nach einem weiteren Erfolg ist nicht erforderlich.
125.) Der Angeklagte hat in seinen Gutachten Befunde erdichtet und gefälscht. Damit hat er diese Gesundheitszeugnisse, wie die Strafkammer mit Recht annimmt, wider besseres Wissen unrichtig ausgestellt. Seine Behauptung, er habe sich dazu für befugt gehalten, hat nicht einen Irrtum über den gesetzlichen Straftatbestand zum Gegenstand, sondern betrifft die Rechtswidrigkeit seines Handelns. Dazu ist das Nötige bereits unter I 2 gesagt.
136.) Dem in der Hauptverhandlung vor dem Senat vorgebrachten Einwand, die Anwendung des § 278 StGB sei ausgeschlossen, weil auf den Angeklagten als Beamten im Sinne des § 359 StGB die Vorschrift des § 348 StGB anzuwenden sei, entzieht die Revision mit der eigenen - richtigen - Ausführung die Grundlage, daß der Tatbestand des § 348 StGB durch das Verhalten des Angeklagten gar nicht erfüllt ist.
Gruß
mogler