Hallo prowler und alle, die mit Gerichten und Gutachtern zu haben!
Schön wäre es, wenn die 2. Instanz alles noch einmal sorgfältig prüfen müsste. Leider kann man davon nicht ausgehen. Noch weniger tut dies der Bundesgerichtshof, wo lediglich noch Verfahrensfehler überprüft werden und auch ein augenscheinlich falsches Urteil einer Vorinstanz kein hinreichender Grund für eine Neuaufnahme des Verfahrens ist. Es geht dort lediglich um den §103 des GG, das Recht auf Gehör vor Gericht, und auch dies wird offenbar rein formal überprüft.
Ich habe im Mai 2016 in einem Arzthaftungsprozess am OLG Celle in der 2. Instanz an einer knapp einstündigen, kurz vor der Mittagspause angesetzten Verhandlung teilgenommen. Es ging um die vielfache, systemfehlerhafte, falsche Einbringung von Knochenersatzmaterialien in infizierte Stellen und falsche Zahnimplantationen. Die Folge war eine schwere Kieferosteomyelitis bei der Klägerin und auch anderen Patienten aus der gleichen Praxis mit über 25, in einem Fall sogar 45 Nachoperationen, dem Verlust eines großen Teils des Kiefers und voraussichtlich lebenslangen Schmerzen.
Was ich dabei erfahren musste, hat mich vollkommen sprachlos gemacht. Die 2. Instanz muss nichts ersthaft überprüfen. In der Verhandlung bezog sich der Vorsitzende Richter lediglich auf den medizinischen Sachverständigen der 1. Instanz, ein älterer Gutachter aus Halle, obgleich dessen Gutachten gravierende, von Fachärzten nachgewiesene Fehler enthielt und der 2. Instanz zusätzlich ein Privatgutachten (ein sogenanntes Second-Look-Gutachten) vorlag, das in den Kernpunkten genau das Gegenteil des gerichtlich bestellten Gutachtens aussagte.
Im Verlauf entstand bei mir der Eindruck, dass das Urteil von Anfang an feststand. Ich war von der Klägerin als Zeuge benannt. Darauf hingewiesen sah der Vorsitzende bemerkenswerterweise kein Problem darin, dass ich an der Verhandlung teilnahm. Schon der Beginn war mehr als seltsam: „Sagen Sie mir, warum ich auf Grund Ihrer Aussagen den armen Dr. … verurteilen soll!“ Die Klägerin legte daraufhin die Aussagen der Fachärzte dar, darunter Professoren von Unikliniken und der Second-Look-Gutachter, ebenfalls ein Professor, wies auf Widersprüche und Fehler im Gutachten der 1. Instanz hin. Alle Unterlagen lagen dem Gericht vor. Sie wurde dabei ständig vom Vorsitzenden unterbrochen, der immer wieder wissen wollte, ob der Gutachter in der einzigen Verhandlung in der 1. Instanz, bei der nur Fragen an ihn zugelassen waren, ihr (und damit der abweichenden Meinung der anderen Ärzte) zugestimmt habe. Das war natürlich nicht der Fall.
Als Naturwissenschaftler konnte ich die Argumente der Klägerin vollständig nachvollziehen, sie waren zu 100% gerechtfertigt. Die Unwissenschaftlichkeit des Gutachtens war frappierend: Behauptungen wurden nicht bewiesen, Gebrauchsanweisungen mit klaren Kontraindikationen wurden nicht beachtet, Belege ignoriert oder in einen falschen Zusammenhang gestellt, das Fehlen von Untersuchungen entschuldigt. Die entscheidenden Aussagen standen im klaren Widerspruch zu den Aussagen der anderen Fachärzte einschließlich des Privatgutachters, selbst die elementare Logik wurde verletzt. Zu Recht wurde das Gutachten in der 1. Instanz angefochten, ein Befangenheitsantrag gegen den Gutachter und ein Antrag auf ein neues Gutachten gestellt. Alles ohne Erfolg.
Der Vorsitzende Richter des Senats am OLG ließ wie die Vorsitzende Richterin der Kammer des Landgerichts Hannover nur die Aussagen des gerichtlich bestellten Gutachters zu. Die wichtigsten Zeugen, darunter auch der Kieferchirurg, der den umfangreichen Schaden schließlich sah, beschrieb und zuordnen konnte, und der parallel tätige HNO-Arzt, Zeugen, die das Gutachten hätten kippen können, wurden in keiner Instanz geladen – wohl auch, weil der gerichtlich bestellte Gutachter in seinen Schriftsätzen deren Befragung für überflüssig erklärte.
Ich hatte den Eindruck, dass der Vorsitzende am OLG kaum mehr als die Aussagen des gerichtlichen Gutachters im Verhandlungsprotokoll der 1. Instanz gelesen hatte. „Andere Kläger hören sich in Ruhe an, was der Gutachter sagt und geben sich dann zufrieden. Sie müssen endlich einmal glauben, was Ihnen der Gutachter sagt!“ Das wurde sinngemäß mehrfach wiederholt. Der Tonfall gegenüber der Klägerin war so unverschämt, dass ich kurz davor war aufzuspringen und zu protestieren. Die beiden beisitzenden Berufsrichter (Laienrichter gibt es in einem solchen Verfahren nicht) griffen nicht ein. Eine haarsträubende Situation!
Es verwunderte mich am Ende kaum noch, dass kein inhaltliches Protokoll erstellt wurde – was hätte bei einer derart katastrophalen Verhandlungsführung wohl darinstehen sollen? Das Fehlen eines ausführlichen Protokolls schadete der Klägerin möglicherweise auch vor dem Bundesgerichtshof: Im Protokoll hätte sich im Detail gezeigt, dass sie vor dem OLG kein Gehör gefunden hatte. Die Klägerin redete gegen eine Wand, ihre säuberlich geordneten Belege (die der Richter aus seinem Aktenstudium eigentlich hätte kennen müssen) durfte sie nicht vorlegen.
Entsprechend dem Verlauf der Verhandlung war das Urteil. Hier behauptete der Vorsitzende entgegen jeder Logik und im Widerspruch zu den Tatsachen sogar, der Privatgutachter sage im Grunde das Gleiche aus wie der Gerichtsgutachter. Mein Eindruck war, dass der Richter das Privatgutachten erst jetzt zur Kenntnis genommen hatte und nun alles passend machen musste. Es war vielleicht sein letzter Fall am OLG, anschließend trat er eine andere Stelle an. Mir schien, es sollte alles schnell über die Bühne gehen.
Eine Revision wurde vom OLG nicht zugelassen. Der Bundesgerichtshof schließlich wies die Nichtzulassungsbeschwerde ohne fallbezogene Begründung mit allgemein gehaltenen Worten ab.
Man kann also leider nicht sicher sein, dass die 2. Instanz besser arbeitet als die 1. Instanz. Es kostet Zeit, sich ausführlich mit einem Fall zu beschäftigen, es kostet Zeit, einen neuen Gutachter zu beauftragen. Und diese Zeit ist bei den arbeitsüberlasteten Gerichten aller Instanzen knapp. „Gutachtergläubigkeit“ in Bezug auf den gerichtlich bestellten Gutachter ermöglicht eine „effizientere“ Arbeit – auf Kosten der Gerechtigkeit.
Meines Erachtens müsste ein derartiges Verhalten nach § 339 StGB geahndet werden: „Ein Richter, ein anderer Amtsträger oder ein Schiedsrichter, welcher sich bei der Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache zugunsten oder zum Nachteil einer Partei einer Beugung des Rechts schuldig macht, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren bestraft.“ Wenn eine Klägerin in einer solchen Weise wie hier geschehen „abgebügelt“ wird, dann sollte dieser Paragraf eigentlich greifen.
Auch wenn mit Sicherheit viele Gutachter/innen und Richter/innen ordentliche Arbeit leisten bleibt viel zu tun. Der Vorschlag von Jutta, Ärztekammern, Justiz und Politik deutlich auf die Defizite hinzuweisen und Abhilfe zu fordern, ist nur zu unterstützen! Gutachten müssen zwingend überprüft oder ersetzt werden, wenn begründete Einwände vorliegen – wie es hier eindeutig der Fall war! Es kann nicht angehen, dass Gerichte juristisch auf der sicheren Seite sind, wenn sie trotz fachärztlich begründeter Einwände an „ihrem“ Gutachter festhalten.
Die Geschädigte ist in ihrer Angelegenheit schon bei höchsten Bundespolitikern vorstellig geworden. Sie wird sich auch an die Medien wenden, das ist in Vorbereitung. Und sie überlegt, ob sie das Ganze nicht in einem Buch verarbeiten sollte. Ich hoffe, dass sie die Kraft dazu findet – es würde vielen aus der Seele sprechen.
Es wäre eine Art Weißer Ring für Geschädigte dringend erforderlich, der ihnen weiterhilft, gegen Gutachter und Gerichte vorzugehen und die Verantwortlichen in Justiz und Politik auf die gesamte Problematik aufmerksam macht - und ihnen notfalls auch unbequeme Fragen stellt.
Viele Grüße
Uwe