Grüß Dich, Rekobär!
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In Deiner letzten Antwort ist ein Begriff aufgetaucht: „Anscheinsbeweis“. Was das ist, wird vielen Lesern nicht viel sagen. Ich glaube, wir sollten es einmal erklären.
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Der Anscheinsbeweis ist der Versuch, sich mithilfe von Erfahrungen der Wahrheit zu nähern.
Wir nehmen an, Du kommst gerade um die Straßenecke, und das siehst Du:
Vor einer Ampel stehen 2 Autos. Das vordere ist hinten beschädigt. Das hintere Auto ist vorne beschädigt. Dazwischen liegt etwas Glas und Dreck auf der Fahrbahn, und einige Leute stehen mit mehr oder weniger betretenen oder zornigen Gesichtern auf dem Gehweg. Das ist die Ausgangslage.
Was wirst Du jetzt denken? Vermutlich: „Aha, das kennt man schon, hier wie in zahlreichen ähnlichen Fällen, der hintere wird dem Forderung aufgefahren sein. Warum, weiß man nicht so genau, vielleicht war zu schnell, hatte zu wenig Abstand, hat zu spät gebremst, dass es aber eigentlich wurscht, denn: in allen Varianten ist der Auffahrer der Schuldige".
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Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit stimmt das auch. Denn das Ergebnis, nämlich die Situation, die Du gesehen hast, lässt mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auf den Vorlauf schließen. Tritt so eine Lage auf, spricht man vom „Anscheinsbeweis“, genauer: dem „Beweis des 1. Anscheines“.
Er beruht schlicht und innig auf Lebenserfahrung.
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Der Anscheinsbeweis kann einen auch einmal in die Irre führen. Denn nur, weil es häufig so ist, muss es nicht jedes Mal zu sein. Das gleiche Bild vor der Ampel kann auch dadurch erzeugt worden sein, dass alle beide Autos friedlich dagestanden sind, bist im Vorderen eingefallen ist, dass er die Spur wechseln will, sodass er zurück setzte, ohne zu schauen. Auch das gibt es.
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Deshalb gibt es auch spezielle Regeln dafür, wie man eine Bewertung im Anscheinsbeweis wieder vernichtet. Man muss nicht den Gegenbeweis führen, also den Beweis dafür, dass es diesmal anders gewesen ist. Es reicht aus, dass man den untypischen Geschehensablauf vorträgt. Das muss man aber sehr gründlich tun (auf Juristen-deutsch: „substantiiert darlegen“). Damit ist dann der Anscheinsbeweis erschüttert, das Gericht kann sich dann nicht mehr auf diese typische Geschehenslage stützen.
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Nicht immer arbeiten Gerichte sauber und korrekt damit. Immer wieder liest man fehlerhafte Sätze in Urteilen, sinngemäß so: Die eine oder andere Seite konnte nicht das Gegenteil von dem beweisen, was der Anscheinsbeweis bereits belegt hat. (Der Anscheinsbeweis muss nicht widerlegt werden! Es genügt, einen anderen, halt eben untypischen Geschehensablauf schlüssig darzustellen).
Deshalb muss man dann, wenn ein Gericht mit dem Wort „Anscheinsbeweis“ arbeitet, sorgfältig darauf hinwirken, dass das Gericht nicht in Irrtümer verfällt.
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Der Anscheinsbeweis spielt eine noch größere Rolle dann, wenn man einmal so weit gekommen ist, dass feststeht: Der Beklagte muss ganz oder teilweise haften“..
(a)
Hat man diese Phase hinter sich, so stellt sich die Frage: „Na und? Was sind jetzt eigentlich die Folgen?"
(b)
Für die Antwort auf diese Frage gibt es Beweiserleichterungen. Derjenige, dessen Recht verletzt worden ist, muss nicht mehr voll beweisen, es genügt, dass er den Richter mit deutlich überwiegender Wahrscheinlichkeit vom Schadensumfang überzeugt.
Es liegt auf der Hand, dass man dazu Erfahrungswerte, statistische Erkenntnisse, übliche Handlungsmuster und Ähnliches berücksichtigen darf.
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