Mehrfach wurde die schwierige und umstrittene Frage an mich gerichtet, ob ein Sozialleistungsträger die Führerscheinstelle zur Überprüfung der Fahrtauglichkeit unterrichten darf, wenn ihm bei seiner Aufgabenerfüllung bekannt wird, dass jemand ein Kfz führt, obwohl auf Grund des Gesundheitszustands (z. B. Epilepsie, starker Diabetes) bzw. einer Behinderung schwere Verkehrsgefährdungen zu erwarten sind. Hierzu gilt Folgendes (auch für Sozialversicherungsträger):
§ 69 Sozialgesetzbuch - SGB - X stellt keine Befugnis für die angedachte Sozialdatenübermittlung dar. Insbesondere gehört die erwogene Information der Führerscheinstelle durch den Sozialleistungsträger nicht zu seinen gesetzlichen Aufgaben etwa nach dem BSHG oder nach einem anderen "besonderen Teil" des SGB i.S.d. § 68 SGB I. Für die reguläre Übermittlung der besagten Sozialdaten an die Führerscheinstelle gibt es auch keine sonstige gesetzliche Befugnis im SGB. Nach § 67 d Abs. 1 SGB X ist eine Übermittlung von Sozialdaten aber nur zulässig, soweit eine gesetzliche Übermittlungsbefugnis nach den §§ 68 bis 77 SGB X oder nach einer anderen Rechtsvorschrift im SGB einschlägig ist. Für seltene und besonders gelagerte Ausnahmen, in denen sich dem Sozialleistungsträger nach sorgfältiger Einschätzung des jeweiligen Einzelfalles aufdrängt, dass sich aus einer Krankheit oder einem Gebrechen des betroffenen Antragstellers bzw. Leistungsbeziehers konkrete Gefahren für Leib und Leben Dritter ergeben, wird in der Literatur allerdings nicht ausgeschlossen, dass die Übermittlung der zur Gefahrenabwendung erforderlichen Sozialdaten unter Berufung auf einen rechtfertigenden Notstand nach § 34 Strafgesetzbuch (StGB) vertretbar sein kann. Ein anderer Teil der Literatur begründet die ausnahmsweise Vertretbarkeit der Datenübermittlung verfassungsrechtlich mit der aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 S. 2 des Grundgesetzes abgeleiteten Pflicht des Staates, das menschliche Leben umfassend zu schützen und es vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren. Insoweit bestehe in extremen Ausnahmefällen nach dem Prinzip der Einheit der Rechtsordnung ein rechtfertigender Notstand auch für Staatsorgane.
Für die genannten seltenen und besonders gelagerten Ausnahmefälle möchte ich mich den besagten Datenübermittlungen im Hinblick auf die hohe Schutzbedürftigkeit von Leben und Gesundheit und unter Bezugnahme auf die o.g. Meinungen in der Literatur nicht verschließen, vorausgesetzt sie erfolgen nach Prüfung folgender Voraussetzungen bzw. unter Einhaltung folgender Maßnahmen:
Weil der rechtfertigende Notstand voraussetzt, dass sich aus der gesundheitlichen Beeinträchtigung und der daraus - nach dem insbesondere anhand vorliegender ärztlicher Informationen abzusichernden Erkenntnisstand des Sozialleistungsträgers - resultierenden Fahruntauglichkeit eine gegenwärtige, nicht anders abwendbare Gefahr für Leben bzw. Gesundheit Dritter ergibt, hat der Sozialleistungsträger bei Bejahen der Fahruntauglichkeit durch Nachfrage beim Betroffenen zu klären, ob dieser im Besitz eines Führerscheins ist und ob sich aktuell überhaupt Gelegenheiten bieten, ein Kfz zu führen. Vielfach dürfte sich schon im Zuge dieser Überprüfungen zeigen, dass die o.g. Gefahrenlage i.S.d. § 34 StGB nicht gegeben ist. Andernfalls muss eingeschätzt werden, ob der Betroffene einsichtig und verlässlich genug ist, für die Dauer seiner einschlägigen Erkrankung vom Führen eines Kfz abzusehen.
Steht dies nicht zu erwarten, muss nunmehr versucht werden, seine Einwilligung in die Information der Führerscheinstelle zu erhalten, selbst wenn diese Zustimmung unwahrscheinlich sein mag. Die Berufung auf einen rechtfertigenden Notstand i.S.d. § 34 StGB als "ultima ratio" zur Rechtfertigung einer vom SGB regulär nicht zugelassenen Datenübermittlung setzt nämlich voraus, dass diese Information nicht auf die Einwilligung des Betroffenen gestützt werden kann, weil in diesem Falle kein belastender Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Betroffenen erforderlich wäre.
Die beschriebene Vorgehensweise des Sozialleistungsträgers ist außer zur Feststellung der Gefahrenlage auch deshalb notwendig, um Informationsgrundlagen für die unverzichtbare Abwägung der widerstreitenden Interessen i.S.d. § 34 StGB zu gewinnen. Des Weiteren muss die Information der Führerscheinstelle ein angemessenes Mittel sein, die Gefahr für die genannten Rechtsgüter Dritter abzuwenden (vgl. § 34 S. 2 StGB).
Die Prüfung und Entscheidung, ob die Führerscheinstelle ausnahmsweise informiert werden darf, sollte unbedingt einer Person mit Vorgesetztenfunktion übertragen werden, etwa dem Leiter des Sozialleistungsträgers oder seinem Stellvertreter.
Nur unter den genannten Voraussetzungen und nur bei äußerst restriktiver und sorgfältiger Fallselektion kommt die Information der Führerscheinstelle über die gesundheitsbedingte Untauglichkeit eines Betroffenen zum Führen eines Kfz als vertretbar in Betracht. Obwohl die gesundheitlichen Angaben dem Sozialleistungsträger womöglich von einem Arzt zugänglich gemacht wurden, steht § 76 SGB X der Informationsweitergabe nicht entgegen. Auch der Arzt wäre nämlich unter den Voraussetzungen des rechtfertigenden Notstands nach § 34 StGB im extremen Ausnahmefall zur Offenbarung dieser gesundheitlichen Defizite gegenüber der Führerscheinstelle berechtigt.
Quelle:
http://www.datenschutz-bayern.de/tbs/tb20/k5.html