Grüß Dich, Marzi!
01
Ich teile nicht ganz die Ansicht, dass man im Pflegeberuf mit einer Halbtagstätigkeit bereits so viel verdient, dass man sich selbst und auch Familienangehörige über Wasser halten kann. Die Aufstockung wird also durchaus begründet sein.
02
Zunächst einmal rechne nach:
(a)
Zähle zusammen, was Du als Lohn in Deinem Halbtagsjob bekommen hast, dazu den Lohn aus dem Mini Job, und dann das, was Deine Aufstockung gewesen ist. Dabei kommt unterm Strich die Zwischensumme I heraus.
(b)
Davon siehst Du Deine Erwerbsunfähigkeit-Rente ab. Das ist die Zwischensumme II.
Das ist schon einmal derjenige Teil des Schadens, den Du auf jeden Fall hast. Sozusagen: der Sockelsatz. Warum will diesen Sockelsatz ein Rechtsanwalt nicht geltend machen?
03
Damit ist aber noch nicht Schluss. Es kann durchaus noch etwas dazu kommen. Nämlich das zusätzliche, dass Du verdient hättest, wärest Du wieder Vollzeit berufstätig geworden. Beim Verdienstentgangs-Schaden gelten gewisse Beweiserleichterungen, und es wird notwendig sein, dass ich Dir ein wenig das System zeige. Sonst kommst Du immer wieder ins Schwimmen.
(a)
Der Schaden, den ein Unfall verursacht hat, wird grundsätzlich so ermittelt:
Zunächst einmal überlegt man sich, was gewesen wäre, wenn der Unfall nicht passiert wäre. Das ist sozusagen das „Soll“.
Dieses „Soll“ vergleicht man mit dem, was tatsächlich passiert ist, das ist also das „Ist“. Die Differenz zwischen Soll und Ist ist der Schaden.
(b)
Wer gegenüber einer Versicherung oder gegenüber einem Gericht Ansprüche durchsetzen will, muss die Grundlagen dazu grundsätzlich gesehen beweisen. „Bewiesen“ ist es wenn es so hochgradig wahrscheinlich ist, dass es eigentlich keine vernünftigen Zweifel mehr gibt.
Das würde bedeuten, dass Du unter anderen nachweisen müsstest, was Du verdient hättest, wäre der Unfall nicht passiert.
Da liegt die Messlatte aber hoch. Es hat tatsächlich einmal ein Gesetz gegeben, da war das wirklich so. Der Geschädigte musste seinen Schaden nachweisen. Zum Glück ist das nicht mehr so.
(c)
Es stellte sich heraus, dass das nicht angemessen ist. Denn wer kann schon insbesondere einige Jahre nach dem Unfall, mit großer Sicherheit erklären und belegen, was er verdient hätte, wäre der Unfall nicht passiert?
Wie das Leben verlaufen wäre, wenn es nicht den Unfall gegeben hätte, lässt sich für die ersten Sekunden und Minuten nach dem Unfall mit großer Sicherheit sagen. Aber je weiter man von dem Augenblick des Unfalles wegkommt, desto unsicherer wird das, desto mehr Spekulation kommt herein, „das Leben hätte so verlaufen können – aber auch ein wenig anders“.
Denken kann man sich viel. Es liegt auch viel in der Luft, es liegt viel nahe. Aber was wäre schon „mit Sicherheit“ vorher zu sagen?
Und so ist es passiert, dass damals viele Unfallgeschädigte den Beweis nicht führen konnten, dementsprechend oft auch ihre Prozesse verloren haben.
Da sah der Gesetzgeber ein, dass auch der Unfallverursacher bitteschön einen Teil des Risikos tragen muss.
(d)
Und jetzt kommt's: Das Gesetz wurde geändert. Du brauchst Du nicht mehr voll zu beweisen, es genügt, dass Du weit überwiegend wahrscheinlich machst (§ 287 ZPO besagt das) dass Leute, die in Deiner Lebenssituation gesteckt haben, nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge (also: „üblicherweise“, "solche wie Du") schon wieder Vollzeit gearbeitet hätten (§ 252 BGB):
Und was sie da verdient hätten, das wird mit dem Durchschnittsverdienst der Leute angesetzt, die das so gemacht haben: So rechnet dass der Bundesgerichtshof (BGH Z 62/103).
Wenn Du so weit kommst, hast Du schon gewonnen. Wichtig ist: Du musst gar nicht so viel beweisen, und die Messlatte liegt wesentlich niedriger als beim beweisen.
04
Ist Dir das System jetzt klar?
05
Versicherungen versuchen häufig, dass nicht wahr zu haben. Kürzlich habe ich einen Vorgang gesehen, da ging es um einen angestellten Steuerberater, der nicht mehr in seinem Beruf arbeiten kann. Als er den Verdienstentgang für das Jahr 2018 ausgerechnet hat und geltend gemacht hat, da hat er auch die Lohnerhöhungen mit einkalkuliert, die Steuerberater im Jahr 2018 so üblicherweise gehabt haben. Solche Angaben kann man übrigens im Internet bei „Destatis“ finden.
Die Versicherung verlangte von ihm, er solle nachweisen, dass angestellte Steuerberater auch in der Stadt, in der er wohnt, eine solche Lohnentwicklung gehabt hätten.
Ein gründlicher Hinweis auf einen Schwung an Urteilen von Oberlandesgerichten und vom BGH führte dazu, dass die Versicherung gemerkt hat: So geht es nicht. Sie hat bezahlt.
ISLÄNDER