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Chronischer Schmerz
Von Dipl.-Psych. Jürgen Dittmar
Ziel dieses Artikels ist es, Probleme, die bei lang andauernden Schmerzen auftreten können, zu beschreiben. Aus diesen Beschreibungen ergeben sich Hinweise darauf, was – nach heutigem Kenntnisstand – bei einer schmerztherapeutischen Behandlung Berücksichtigung finden sollte.
Schmerz: chronisch/akut eine wichtige Unterscheidung
Was ist Schmerz eigentlich? Eine Frage, die gar nicht so einfach zu beantworten ist, wie es vielleicht auf den ersten Blick erscheint. Nach einer Definition der Internationalen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes aus dem Jahre 1979 ist Schmerz „ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potentieller Gewebsschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen beschrieben wird“. Diese Definition weist darauf hin, dass Schmerz ein Vorgang ist, der nicht allein durch körperliche Prozesse erklärbar ist. Schmerz ist ein Erleben und damit erst mal rein subjektiv. Die verwendeten Worte beziehen sich auf eine körperliche Schädigung, ohne dass diese vorhanden sein muss.
Von entscheidender Bedeutung für die Behandlung von Schmerzen ist die Unterscheidung zwischen akutem und chronischem Schmerz. Von chronischem Schmerz spricht man, wenn Schmerzen über eine Zeitspanne von 6 Monaten hinaus andauern. Man geht heute davon aus, dass sich chronische Schmerzen und akute Schmerzen stark voneinander unterscheiden. Akuter Schmerz hat einen Signalcharakter! Von den alten Griechen als "bellender Wachhund der Gesundheit" bezeichnet weist er auf eine Gewebeschädigung oder eine funktionelle Störungen hin. Beim chronischen (langandauernden) Schmerz ist dies anders. Der Schmerz hat seinen Signalcharakter verloren. Schmerz wird zur eigentlichen Krankheit. Oft weist er nicht mehr auf eine körperliche Schädigung hin. Stattdessen ist er das Ergebnis sehr unterschiedlicher miteinander in Wechselwirkung stehender körperlicher und seelischer Veränderungen, für die die Verletzung nur der erste Anstoß war.
Der Weg in die Schmerzkrankheit
Wie entwickelt sich eine Schmerzkrankheit? Am Anfang steht in den meisten Fällen eine körperliche oder seelische Verletzung oder eine Entzündung, die mit akuten Schmerzen einhergeht.
Chronische Schmerzen können entstehen,
wenn die ursprüngliche Erkrankung mit oder ohne Gewebeveränderungen chronifiziert,
wenn durch neuroplastische Veränderungen das Nervensystem dauerhaft überaktiv bleibt
wenn die akute Verletzung/Entzündung zu Verhaltensänderungen (Schonhaltungen, muskuläre Verspannungen, Ängste, Depressionen etc.) führt, die eine Chronifizierung begünstigen oder
wenn ein „akuter seelischer Schmerz“ nicht „abheilt“.
Oft treten Kombinationen der verschiedenen Faktoren auf.
Zu a. In der folgenden Aufstellung finden Sie einige Beispiele für Erkrankungen, die oft mit dauerhaften Schmerzen einhergehen:
Trigeminusneuralgie
Zosterneuralgie
sympathische Reflexdystrophie (Morbus Sudeck)
Migräne
medikamenteninduzierter Kopfschmerz
Multiple Sklerose
Polyarthritis
Tumorerkrankungen.
Zu b. Bei neuroplastischen Veränderungen des Nervensystems stellt man sich vor, dass sich ein Schmerzgedächtnis ausgebildet hat. Der Schmerz hat sich verselbstständigt! (Dies kann auch bei oben genannten Erkrankungen der Fall sein.) Für die Schmerzleitung zuständige Nerven haben sich verändert. Veränderungen findet man sowohl im peripheren wie auch im Zentralnervensystem. Das bedeutet, dass sich die Schmerzschwellen der schmerzleitenden Nervenzellen verändert haben. Diese Zellen reagieren schon bei geringsten Reizen (leichte Berührungen, kalter Lufthauch, etc.) mit starker Aktivität (z.B. Phantomschmerz/ Stumpfschmerzen nach Amputationen). Im Großhirn mancher Patienten haben sich auch Gehirnareale, die auf Schmerzimpulse aus dem peripheren Nervensystem reagieren, stark ausgeweitet. Das Nervensystems ist geneigt, auf geringfügige äußere Reize mit Schmerzen zu reagieren. Dieser Prozess ist manchmal nur mit größer Mühe umkehrbar. Aber so wie wir im Alltag Dinge vergessen können, können auch die Gedächtnisspuren im Nervensystem rückgängig gemacht oder abgeschwächt werden. In der Praxis erweist sich dies oft als schwierig, da bei der Entstehung, bei der Aufrechterhaltung als auch beim Vergessen chronischer Schmerzen sowohl seelische als auch körperliche Prozesse beteiligt sind.
Zu c. Neben Veränderungen im Nervensystem spielen bei der Chronifizierung auch emotionale (gefühlsmäßige) Einflüsse und Verhaltensänderungen eine große Rolle. So kann die wahrgenommene Schmerzintensität durch Ängste verstärkt werden. Angst und Schmerz können sich wie in einem Teufelskreis wechselseitig hochschaukeln.
Abb. 1: "Teufelskreis" des Schmerzes
Schmerzen werden als bedrohlich erlebt. Dies ist bei chronischen Schmerzen oft noch ausgeprägter als bei akuten, da die Ursachen so schwer greifbar sind. Resultierende Angst bewirkt u.a. vermehrte Muskelanspannung, die oft zur Verstärkung der Schmerzwahrnehmung beiträgt. Mit der Angst gehen oft Gefühle der Hilflosigkeit oder sogar der Verzweiflung einher, da man keinen Weg findet den Schmerzen zu beeinflussen.
Andauernder Schmerz verursacht nicht selten Depressionen . Da die Betroffenen durch das Schmerzgeschehen in ihren Alltagsaktivitäten eingeschränkt werden, Hobbies und Ablenkung bietende Aktivitäten aufgeben und sich aus sozialen Kontakten zurückziehen, geht die Freude am Leben verloren. Dies reduziert Antrieb und Energie, fördert negative Selbstbewertungen („Ich bin zu nichts mehr nütze!“; „Ich verhalte mich wie eine alte/r Frau/Mann.“), nimmt den Mut und Eigeninitiative und verursacht weiteres Schonverhalten, was sich wiederum negativ auf die Schmerzen auswirkt.
Manchmal wird nach Ausheilen der ursprünglichen Verletzung der Schmerz durch das Andauern der Schutzreaktionen (Muskelverspannungen und Schonhaltungen) aufrechterhalten.
Abb. 2: Zusammenhang zwischen dauerhaften Muskelverspannungen und Schmerz
Unabhängig vom ersten verletzenden Reiz spielt bei der Chronifizierung des Schmerzes eine große Rolle, wie ein Mensch mit Schmerzen umgeht. Menschen, die auf Schmerzen mit Hilflosigkeit oder katastrophisierenden Gedanken reagieren, die ihre sozialen und körperlichen Aktivitäten einschränken und den Schmerz zum Lebensmittelpunkt werden lassen, haben ein hohes Risiko, an Dauerschmerzen zu erkranken. Eine Neigung zur chronischen Selbstüberforderung, mit übertriebener Angst Schwächen und Hilflosigkeit zu zeigen, erhöhen die Gefahr, dass nach einer akuten Verletzung ein dauerhafter Schmerz entsteht. Ebenso kann maßloser Ehrgeiz und die Schwierigkeit, mit gutem Gewissen zu genießen, zur Chronifizierung führen.
Zu d. Nicht zu vernachlässigen sind „nicht abgeheilte seelische Verletzungen“, die sich zu chronischen Schmerzen entwickeln können. Seelische Verletzungen können sehr unterschiedliche Gründe haben und sind auch dem Betroffenen nicht immer bewusst. So kann zum Beispiel eine körperliche Verletzung auch ein seelisches Trauma bedeuten, wenn das Selbstbild einer Person als unversehrter und leistungsfähiger Mensch beschädigt wird. Todesfälle von nahestehenden Menschen, Trennungen, Kränkungen und Zurückweisungen aber auch andauernde Streitigkeiten und ungelöste zwischenmenschliche Konflikte können zu seelischen Verletzungen führen. Von großer Bedeutung sind ungelöste innere Konflikte, die durch oben benannte Ereignisse angestoßen werden, und im Stillen quälend fortbestehen. Bei seelischen Verletzungen ist entscheidend, wie wir mit ihnen umgehen. Aktiv Probleme anzusprechen und sich mitzuteilen, ist günstiger, als „alles in sich hineinzufressen“, zu schweigen und heimlich der ganzen Welt Vorwürfe zu machen.
Die Behandlung chronischer Schmerzen
Für die Behandlung chronischer Schmerzen gibt es nicht „das eine Verfahren“, das den Schmerz endgültig besiegt. Ein fächerübergreifendes, am praktischen Erfolg orientiertes (interdisziplinäres, polypragmatisches) Vorgehen, das biologische, psychologische und soziale Einflussfaktoren berücksichtigt, ist erforderlich. Bereits in der Phase der Diagnostik sollte dem Patienten das Vorgehen möglichst transparent gemacht werden. Zu erfahren, wie sich der Arzt die Schmerzen erklärt und welche Ursachen er aufgrund welcher Diagnostik ausschließt, hilft die Zusammenarbeit zwischen Patient und Behandelnden zu fördern. Bei Behandlungsbeginn empfiehlt es sich, realistische Zielsetzungen zu besprechen, um Illusionen und Enttäuschungen vorzubeugen. Neben der Schmerzreduktion sind auch die Verbesserung der Lebensqualität bei fortbestehenden Schmerzen und die Minderung der schmerzbedingten Beeinträchtigungen wichtige Behandlungsziele. Eine erfolgversprechende Behandlung sollte schon frühzeitig verschiedene Behandlungsverfahren (psychologische Therapie, medikamentöse, krankengymnastische Behandlung, Massagen, Schulungen, etc.) sinnvoll kombinieren und aufeinander abstimmen.
Von großer Bedeutung ist die Mitarbeit des Patienten. Zunehmende Passivität ist schädlich. Für die oft langwierige Behandlung ist eine gute Zusammenarbeit zwischen Patienten und Behandlern erforderlich. Eine systematische Selbstbeobachtung durch das Führen eines Schmerztagebuchs ist erforderlich, um auch geringe Erfolge von Behandlungsmaßnahmen einschätzen zu können und die Motivation und den Durchhaltewillen zu fördern. Regelmäßige gymnastische Übungen zur Dehnung und Stärkung der Muskulatur (z.B. bei Rückenschmerzen), regelmäßige Entspannungsübungen oder eine umfassende Umstellung der Lebensführung erfordern viel Eigenaktivität, Einsatz und Ausdauer. Ermutigung durch Behandelnde, Freunde und Partner ist notwendig. Oft ist über längere Zeit eine Medikamenteneinnahme nach Plan erforderlich. Auch ist es notwendig mit Belastungen und Überforderungen anders umgehen zu lernen: Wie schon erwähnt, sind viele chronisch Schmerzkranke äußerst leistungsorientiert und neigen dazu, sich dauerhaft zu überfordern. Wenn dann ständig Schmerzen auftreten, überwiegt ein zu starkes Schonungsverhalten. Sind die Schmerzen einmal geringer, wird versucht, alles Versäumte nachzuholen, was wiederum zu Überforderung und Schmerzverstärkung führt. Solche schädigenden Verhaltensmuster zu verändern und sich mehr am eigenen Befinden statt an Leistungsnormen zu orientieren, ist u.a. ein Ziel verhaltenstherapeutischer Maßnahmen.
Einige verhaltensmodifizierende Verfahren der Schmerzbewältigung finden sie in der folgenden Auflistung:
systematische Selbstbeobachtung durch Führung eines Schmerztagebuchs
ausgewogenes (an die Belastbarkeit angepasstes körperliches) Training
Entspannungsverfahren (Autogenes Training; Progressive Muskelrelaxation; Yoga; Tai-Chi, etc.)
innere Aufmerksamkeitsumlenkung (Imaginationsverfahren)
äußere Aufmerksamkeitsumlenkung (Genuss-Übungen)
Steuerung von inneren Selbstgesprächen (Hoffnung fördern statt Katastrophenängste schüren)
Selbstinstruktionstraining (sich selbst systematisch Anweisungen geben lernen)
Die in der Literatur empfohlene koordinierte fächerübergreifende Behandlung wird oft erst dann begonnen, wenn der Patient (und der Behandler) nach Rückschlägen bei Verfahren, die am rein körperlichen Verständnis von Schmerz orientiert sind, durch ein Wechselbad von Hoffnung und Enttäuschung gegangen ist.
Die Überweisung an einen Psychotherapeuten oder Psychiater wird von manchen Patienten zu diesem Zeitpunkt als Entwertung erlebt. Sie fühlen sich abgeschoben und als eingebildete Kranke oder Verrückte abgestempelt. Sinnvoll ist es, schon zu Beginn der Behandlung seelische Einflussfaktoren zu berücksichtigen und entsprechende Verfahren zeitlich parallel anzuwenden. So kann man in manchen Fällen notwendige Medikamentendosen und damit auch Nebenwirkungen reduzieren. Voraussetzung ist, dass Patienten gut über ihre Erkrankung informiert sind, weniger Angst haben und regelmäßig Entspannungsverfahren anwenden.
Ich hoffe, dass die Ausführungen dazu beitragen, Missverständnisse über psychologische und psychotherapeutische Verfahren aufzuklären und Betroffenen Ängste zu nehmen. Im Mittelpunkt der hiesigen Ausführungen standen psychologische und psychotherapeutische Überlegungen. Informationen über die Besonderheiten der Ursprungserkrankungen („erste Verletzung“) sind gleichermaßen wichtig!
Links zum Thema Schmerz
finden Sie auf unserer Seite "Hilfe und Selbsthilfe"/Schmerz.
Weitere interessante Informationen finden Sie bei diversen Medizin-Servern, die wir auf der Seite "Medizin und Gesundheit"/Gesundheitsportal zusammengestellt haben sowie in den medizinischen Rubriken von www.stern.de, www.zdf.de, www.wdr.de, www.dak.de und www.aok.de.
Vertiefende und weiterführende Literatur:
1. Mit dem Schmerz leben - Anleitung zur Selbsthilfe. Broome/Jellicoe. Verlag H. Huber, 1999
2. Was bei Schmerzen hilft - Ein Ratgeber. Stein Husebö. Herder Verlag, 2001
3. Freundschaft mit dem eigenen Körper schließen. Hanne Seemann. Klett-Cotta, 1998
www.ipsis.de/themen/themaschmerz.htm
Von Dipl.-Psych. Jürgen Dittmar
Ziel dieses Artikels ist es, Probleme, die bei lang andauernden Schmerzen auftreten können, zu beschreiben. Aus diesen Beschreibungen ergeben sich Hinweise darauf, was – nach heutigem Kenntnisstand – bei einer schmerztherapeutischen Behandlung Berücksichtigung finden sollte.
Schmerz: chronisch/akut eine wichtige Unterscheidung
Was ist Schmerz eigentlich? Eine Frage, die gar nicht so einfach zu beantworten ist, wie es vielleicht auf den ersten Blick erscheint. Nach einer Definition der Internationalen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes aus dem Jahre 1979 ist Schmerz „ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potentieller Gewebsschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen beschrieben wird“. Diese Definition weist darauf hin, dass Schmerz ein Vorgang ist, der nicht allein durch körperliche Prozesse erklärbar ist. Schmerz ist ein Erleben und damit erst mal rein subjektiv. Die verwendeten Worte beziehen sich auf eine körperliche Schädigung, ohne dass diese vorhanden sein muss.
Von entscheidender Bedeutung für die Behandlung von Schmerzen ist die Unterscheidung zwischen akutem und chronischem Schmerz. Von chronischem Schmerz spricht man, wenn Schmerzen über eine Zeitspanne von 6 Monaten hinaus andauern. Man geht heute davon aus, dass sich chronische Schmerzen und akute Schmerzen stark voneinander unterscheiden. Akuter Schmerz hat einen Signalcharakter! Von den alten Griechen als "bellender Wachhund der Gesundheit" bezeichnet weist er auf eine Gewebeschädigung oder eine funktionelle Störungen hin. Beim chronischen (langandauernden) Schmerz ist dies anders. Der Schmerz hat seinen Signalcharakter verloren. Schmerz wird zur eigentlichen Krankheit. Oft weist er nicht mehr auf eine körperliche Schädigung hin. Stattdessen ist er das Ergebnis sehr unterschiedlicher miteinander in Wechselwirkung stehender körperlicher und seelischer Veränderungen, für die die Verletzung nur der erste Anstoß war.
Der Weg in die Schmerzkrankheit
Wie entwickelt sich eine Schmerzkrankheit? Am Anfang steht in den meisten Fällen eine körperliche oder seelische Verletzung oder eine Entzündung, die mit akuten Schmerzen einhergeht.
Chronische Schmerzen können entstehen,
wenn die ursprüngliche Erkrankung mit oder ohne Gewebeveränderungen chronifiziert,
wenn durch neuroplastische Veränderungen das Nervensystem dauerhaft überaktiv bleibt
wenn die akute Verletzung/Entzündung zu Verhaltensänderungen (Schonhaltungen, muskuläre Verspannungen, Ängste, Depressionen etc.) führt, die eine Chronifizierung begünstigen oder
wenn ein „akuter seelischer Schmerz“ nicht „abheilt“.
Oft treten Kombinationen der verschiedenen Faktoren auf.
Zu a. In der folgenden Aufstellung finden Sie einige Beispiele für Erkrankungen, die oft mit dauerhaften Schmerzen einhergehen:
Trigeminusneuralgie
Zosterneuralgie
sympathische Reflexdystrophie (Morbus Sudeck)
Migräne
medikamenteninduzierter Kopfschmerz
Multiple Sklerose
Polyarthritis
Tumorerkrankungen.
Zu b. Bei neuroplastischen Veränderungen des Nervensystems stellt man sich vor, dass sich ein Schmerzgedächtnis ausgebildet hat. Der Schmerz hat sich verselbstständigt! (Dies kann auch bei oben genannten Erkrankungen der Fall sein.) Für die Schmerzleitung zuständige Nerven haben sich verändert. Veränderungen findet man sowohl im peripheren wie auch im Zentralnervensystem. Das bedeutet, dass sich die Schmerzschwellen der schmerzleitenden Nervenzellen verändert haben. Diese Zellen reagieren schon bei geringsten Reizen (leichte Berührungen, kalter Lufthauch, etc.) mit starker Aktivität (z.B. Phantomschmerz/ Stumpfschmerzen nach Amputationen). Im Großhirn mancher Patienten haben sich auch Gehirnareale, die auf Schmerzimpulse aus dem peripheren Nervensystem reagieren, stark ausgeweitet. Das Nervensystems ist geneigt, auf geringfügige äußere Reize mit Schmerzen zu reagieren. Dieser Prozess ist manchmal nur mit größer Mühe umkehrbar. Aber so wie wir im Alltag Dinge vergessen können, können auch die Gedächtnisspuren im Nervensystem rückgängig gemacht oder abgeschwächt werden. In der Praxis erweist sich dies oft als schwierig, da bei der Entstehung, bei der Aufrechterhaltung als auch beim Vergessen chronischer Schmerzen sowohl seelische als auch körperliche Prozesse beteiligt sind.
Zu c. Neben Veränderungen im Nervensystem spielen bei der Chronifizierung auch emotionale (gefühlsmäßige) Einflüsse und Verhaltensänderungen eine große Rolle. So kann die wahrgenommene Schmerzintensität durch Ängste verstärkt werden. Angst und Schmerz können sich wie in einem Teufelskreis wechselseitig hochschaukeln.
Abb. 1: "Teufelskreis" des Schmerzes
Schmerzen werden als bedrohlich erlebt. Dies ist bei chronischen Schmerzen oft noch ausgeprägter als bei akuten, da die Ursachen so schwer greifbar sind. Resultierende Angst bewirkt u.a. vermehrte Muskelanspannung, die oft zur Verstärkung der Schmerzwahrnehmung beiträgt. Mit der Angst gehen oft Gefühle der Hilflosigkeit oder sogar der Verzweiflung einher, da man keinen Weg findet den Schmerzen zu beeinflussen.
Andauernder Schmerz verursacht nicht selten Depressionen . Da die Betroffenen durch das Schmerzgeschehen in ihren Alltagsaktivitäten eingeschränkt werden, Hobbies und Ablenkung bietende Aktivitäten aufgeben und sich aus sozialen Kontakten zurückziehen, geht die Freude am Leben verloren. Dies reduziert Antrieb und Energie, fördert negative Selbstbewertungen („Ich bin zu nichts mehr nütze!“; „Ich verhalte mich wie eine alte/r Frau/Mann.“), nimmt den Mut und Eigeninitiative und verursacht weiteres Schonverhalten, was sich wiederum negativ auf die Schmerzen auswirkt.
Manchmal wird nach Ausheilen der ursprünglichen Verletzung der Schmerz durch das Andauern der Schutzreaktionen (Muskelverspannungen und Schonhaltungen) aufrechterhalten.
Abb. 2: Zusammenhang zwischen dauerhaften Muskelverspannungen und Schmerz
Unabhängig vom ersten verletzenden Reiz spielt bei der Chronifizierung des Schmerzes eine große Rolle, wie ein Mensch mit Schmerzen umgeht. Menschen, die auf Schmerzen mit Hilflosigkeit oder katastrophisierenden Gedanken reagieren, die ihre sozialen und körperlichen Aktivitäten einschränken und den Schmerz zum Lebensmittelpunkt werden lassen, haben ein hohes Risiko, an Dauerschmerzen zu erkranken. Eine Neigung zur chronischen Selbstüberforderung, mit übertriebener Angst Schwächen und Hilflosigkeit zu zeigen, erhöhen die Gefahr, dass nach einer akuten Verletzung ein dauerhafter Schmerz entsteht. Ebenso kann maßloser Ehrgeiz und die Schwierigkeit, mit gutem Gewissen zu genießen, zur Chronifizierung führen.
Zu d. Nicht zu vernachlässigen sind „nicht abgeheilte seelische Verletzungen“, die sich zu chronischen Schmerzen entwickeln können. Seelische Verletzungen können sehr unterschiedliche Gründe haben und sind auch dem Betroffenen nicht immer bewusst. So kann zum Beispiel eine körperliche Verletzung auch ein seelisches Trauma bedeuten, wenn das Selbstbild einer Person als unversehrter und leistungsfähiger Mensch beschädigt wird. Todesfälle von nahestehenden Menschen, Trennungen, Kränkungen und Zurückweisungen aber auch andauernde Streitigkeiten und ungelöste zwischenmenschliche Konflikte können zu seelischen Verletzungen führen. Von großer Bedeutung sind ungelöste innere Konflikte, die durch oben benannte Ereignisse angestoßen werden, und im Stillen quälend fortbestehen. Bei seelischen Verletzungen ist entscheidend, wie wir mit ihnen umgehen. Aktiv Probleme anzusprechen und sich mitzuteilen, ist günstiger, als „alles in sich hineinzufressen“, zu schweigen und heimlich der ganzen Welt Vorwürfe zu machen.
Die Behandlung chronischer Schmerzen
Für die Behandlung chronischer Schmerzen gibt es nicht „das eine Verfahren“, das den Schmerz endgültig besiegt. Ein fächerübergreifendes, am praktischen Erfolg orientiertes (interdisziplinäres, polypragmatisches) Vorgehen, das biologische, psychologische und soziale Einflussfaktoren berücksichtigt, ist erforderlich. Bereits in der Phase der Diagnostik sollte dem Patienten das Vorgehen möglichst transparent gemacht werden. Zu erfahren, wie sich der Arzt die Schmerzen erklärt und welche Ursachen er aufgrund welcher Diagnostik ausschließt, hilft die Zusammenarbeit zwischen Patient und Behandelnden zu fördern. Bei Behandlungsbeginn empfiehlt es sich, realistische Zielsetzungen zu besprechen, um Illusionen und Enttäuschungen vorzubeugen. Neben der Schmerzreduktion sind auch die Verbesserung der Lebensqualität bei fortbestehenden Schmerzen und die Minderung der schmerzbedingten Beeinträchtigungen wichtige Behandlungsziele. Eine erfolgversprechende Behandlung sollte schon frühzeitig verschiedene Behandlungsverfahren (psychologische Therapie, medikamentöse, krankengymnastische Behandlung, Massagen, Schulungen, etc.) sinnvoll kombinieren und aufeinander abstimmen.
Von großer Bedeutung ist die Mitarbeit des Patienten. Zunehmende Passivität ist schädlich. Für die oft langwierige Behandlung ist eine gute Zusammenarbeit zwischen Patienten und Behandlern erforderlich. Eine systematische Selbstbeobachtung durch das Führen eines Schmerztagebuchs ist erforderlich, um auch geringe Erfolge von Behandlungsmaßnahmen einschätzen zu können und die Motivation und den Durchhaltewillen zu fördern. Regelmäßige gymnastische Übungen zur Dehnung und Stärkung der Muskulatur (z.B. bei Rückenschmerzen), regelmäßige Entspannungsübungen oder eine umfassende Umstellung der Lebensführung erfordern viel Eigenaktivität, Einsatz und Ausdauer. Ermutigung durch Behandelnde, Freunde und Partner ist notwendig. Oft ist über längere Zeit eine Medikamenteneinnahme nach Plan erforderlich. Auch ist es notwendig mit Belastungen und Überforderungen anders umgehen zu lernen: Wie schon erwähnt, sind viele chronisch Schmerzkranke äußerst leistungsorientiert und neigen dazu, sich dauerhaft zu überfordern. Wenn dann ständig Schmerzen auftreten, überwiegt ein zu starkes Schonungsverhalten. Sind die Schmerzen einmal geringer, wird versucht, alles Versäumte nachzuholen, was wiederum zu Überforderung und Schmerzverstärkung führt. Solche schädigenden Verhaltensmuster zu verändern und sich mehr am eigenen Befinden statt an Leistungsnormen zu orientieren, ist u.a. ein Ziel verhaltenstherapeutischer Maßnahmen.
Einige verhaltensmodifizierende Verfahren der Schmerzbewältigung finden sie in der folgenden Auflistung:
systematische Selbstbeobachtung durch Führung eines Schmerztagebuchs
ausgewogenes (an die Belastbarkeit angepasstes körperliches) Training
Entspannungsverfahren (Autogenes Training; Progressive Muskelrelaxation; Yoga; Tai-Chi, etc.)
innere Aufmerksamkeitsumlenkung (Imaginationsverfahren)
äußere Aufmerksamkeitsumlenkung (Genuss-Übungen)
Steuerung von inneren Selbstgesprächen (Hoffnung fördern statt Katastrophenängste schüren)
Selbstinstruktionstraining (sich selbst systematisch Anweisungen geben lernen)
Die in der Literatur empfohlene koordinierte fächerübergreifende Behandlung wird oft erst dann begonnen, wenn der Patient (und der Behandler) nach Rückschlägen bei Verfahren, die am rein körperlichen Verständnis von Schmerz orientiert sind, durch ein Wechselbad von Hoffnung und Enttäuschung gegangen ist.
Die Überweisung an einen Psychotherapeuten oder Psychiater wird von manchen Patienten zu diesem Zeitpunkt als Entwertung erlebt. Sie fühlen sich abgeschoben und als eingebildete Kranke oder Verrückte abgestempelt. Sinnvoll ist es, schon zu Beginn der Behandlung seelische Einflussfaktoren zu berücksichtigen und entsprechende Verfahren zeitlich parallel anzuwenden. So kann man in manchen Fällen notwendige Medikamentendosen und damit auch Nebenwirkungen reduzieren. Voraussetzung ist, dass Patienten gut über ihre Erkrankung informiert sind, weniger Angst haben und regelmäßig Entspannungsverfahren anwenden.
Ich hoffe, dass die Ausführungen dazu beitragen, Missverständnisse über psychologische und psychotherapeutische Verfahren aufzuklären und Betroffenen Ängste zu nehmen. Im Mittelpunkt der hiesigen Ausführungen standen psychologische und psychotherapeutische Überlegungen. Informationen über die Besonderheiten der Ursprungserkrankungen („erste Verletzung“) sind gleichermaßen wichtig!
Links zum Thema Schmerz
finden Sie auf unserer Seite "Hilfe und Selbsthilfe"/Schmerz.
Weitere interessante Informationen finden Sie bei diversen Medizin-Servern, die wir auf der Seite "Medizin und Gesundheit"/Gesundheitsportal zusammengestellt haben sowie in den medizinischen Rubriken von www.stern.de, www.zdf.de, www.wdr.de, www.dak.de und www.aok.de.
Vertiefende und weiterführende Literatur:
1. Mit dem Schmerz leben - Anleitung zur Selbsthilfe. Broome/Jellicoe. Verlag H. Huber, 1999
2. Was bei Schmerzen hilft - Ein Ratgeber. Stein Husebö. Herder Verlag, 2001
3. Freundschaft mit dem eigenen Körper schließen. Hanne Seemann. Klett-Cotta, 1998
www.ipsis.de/themen/themaschmerz.htm