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Bundesverfassungsgericht entscheidet "Offensichtlich begründete" Verfassungsbeschwerde einer sehbehinderten Frau

seenixe

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31 Aug. 2006
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Berlin
"Offensichtlich begründete" Verfassungsbeschwerde zum Mitführen eines Blindenhundes
Eine sehbehinderte Frau darf mit ihrem Blindenführhund einen Durchgang durchs Wartezimmer einer Gemeinschaftspraxis nutzen. Die Berliner Justiz sah das anders – und kassierte dafür nun einen ordentlichen Rüffel von den Karlsruher Kollegen.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat der Verfassungsbeschwerde einer sehbehinderten Frau, der verboten worden war, mit ihrer Blindenführhündin eine Arztpraxis zu durchqueren, als "offensichtlich begründet" stattgegeben (Beschl. v. 10.01.2020, Az. 2 BvR 1005/18). Ein Beschluss des Kammergerichts (KG) in Berlin, der das Hundeverbot bestätigte, verletze die Frau in ihrem Recht aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 Grundgesetz (GG).

Die Frau war in Behandlung in einer Physiotherapiepraxis. Diese war über zwei Wege zu erreichen: zum einen ebenerdig durch die Räumlichkeiten der Orthopädischen Gemeinschaftspraxis und zum anderen über den Hof über eine offene Stahlgittertreppe. Innerhalb der Gemeinschaftspraxis führt der Weg zur Physiotherapiepraxis durch ein Wartezimmer. Die Frau hatte diesen Weg bereits mehrfach mit ihrer Hündin genutzt.

Die Ärzte der Gemeinschaftspraxis untersagten ihr dann aber später, die Praxisräume mit ihrer Hündin zu betreten und forderten sie auf, den Weg über den Hof und die Treppe zu nehmen. Als die Frau die Praxisräume einige Wochen später erneut durchqueren wollte, verweigerten sie ihr den Durchgang.
LG und KG wiesen Klage ab

Vor dem Landgericht (LG) Berlin beantragte die Frau sodann, die Ärzte zur Duldung des Durch- und Zugangs zusammen mit der Hündin zu verurteilen. Sie könne die Stahlgittertreppe nicht nutzen, da die Hündin die Treppe scheue und sich bereits mit ihren Krallen im Gitter verfangen und verletzt habe.

Die Klage blieb jedoch erfolglos, das KG wies auch die Berufung der Frau, die inzwischen einen Rollstuhl benutzen musste, zurück. Die Berliner Richter entschieden, dass es sich bei dem Verbot weder um eine unmittelbare Benachteiligung im Sinne des § 3 Abs. 1 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) noch um eine mittelbare Benachteiligung im Sinne des § 3 Abs. 2 AGG handele.

Das sah das BVerfG nun anders. Die Entscheidung des KG verkenne die Bedeutung und Tragweite des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, weil es dessen Ausstrahlwirkung in das Zivilrecht nicht berücksichtigt habe. Das KG hatte etwa darauf abgestellt, dass die Frau selbst gar nicht daran gehindert werde, durch die Praxisräume zu gehen, sondern sich wegen des Verbots, ihre Führhündin mitzunehmen, nur daran gehindert sehe.
Keine Hygienebedenken, wenn es nur um Durchquerung des Warteraums geht

Damit vergleiche das KG die Frau nicht mit behinderten Personen, "sondern erwartet von ihr, sich helfen zu lassen und sich damit von Anderen abhängig zu machen. Dabei verkennt es, dass sich die Beschwerdeführerin ohne ihre Führhündin einer unbekannten Person anvertrauen und sich, ohne dies zu wünschen, anfassen und führen oder im Rollstuhl schieben lassen müsste", so die Karlsruher Richter. Laut ihnen kommt dies einer Bevormundung gleich, weil es voraussetze, dass sie die Kontrolle über ihre persönliche Sphäre aufgibt.

Die Benachteiligung sei auch weder sachlich gerechtfertigt noch verhältnismäßig, so das BVerfG weiter. Das KG hatte das Durchgangsverbot auf "hygienische Gründe" gestützt. Dabei habe es aber außer Acht gelassen, dass die Frau nur den Wartebereich durchqueren muss, den Menschen ebenso mit Straßenschuhen und Straßenkleidung betreten. "Eine nennenswerte Beeinträchtigung der hygienischen Verhältnisse durch die Hündin beim gelegentlichen Durchqueren des Warteraums liegt daher eher fern", so das BVerfG. Auch das Robert-Koch-Institut und die Deutsche Krankenhausgesellschaft gingen davon aus, dass aus hygienischer Sicht in der Regel keine Einwände gegen die Mitnahme von Blindenführhunden in Praxen und Krankenhausräume bestehen, so die Karlsruher Richter.

Während die wirtschaftlichen Interessen der Ärzte allenfalls in geringem Maße beeinträchtigt würden, bringe das Verbot erhebliche Nachteile für die blinde Frau, entschied das Gericht weiter. Es werde ihr unmöglich, wie nicht behinderte Personen selbständig und ohne fremde Hilfe in ihre bevorzugte Praxis zu gelangen. "Das Kammergericht verkennt offenkundig, dass das Benachteiligungsverbot in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG es Menschen mit Behinderungen ermöglichen soll, so weit wie möglich ein selbstbestimmtes und selbständiges Leben zu führen", heißt es im Beschluss des BVerfG. Das Durchgangsverbot sei unverhältnismäßig und benachteilige die Frau in verfassungswidriger Weise.
 
Hallo seenixe,

interessantes Urteil, aber mit weitreichenden Konsequenzen. Ich könnte mir vorstellen, dass es jetzt einen Konflikt zwischen der Arztpraxis und der Physiotherapie geben wird. Viel besser wäre es doch gewesen, wenn es zunächst einmal zu einem klärenden Gespräch zwischen der sehbehinderten Frau und der betroffenen Arztpraxis gekommen wäre. Ich habe da nämlich so eine Vermutung, was da im Vorfeld passiert ist und deshalb das Durchgangsverbot ausgesprochen wurde. Ich gehe davon aus, dass der Blindenführhund als Grund nur vorgeschoben wurde.

Herzliche Grüße vom RekoBär :)
 
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