Widerspruchsrecht des Versicherten gegen die Übermittlung seiner Sozialdaten
Die dritte Entscheidung betrifft einen Fall aus dem Unfallversicherungsrecht mit Bezügen zum Prozessrecht.
Leitsätze (nicht amtlich): Das gegenüber dem Unfallversicherungsträger bestehende Gutachterauswahlrecht des Versicherten und die Pflicht des Unfallversicherungsträgers, auf das Widerspruchsrecht
des Versicherten gegen die Übermittlung seiner Sozialdaten hinzuweisen, gelten auch im Gerichtsverfahren. Ein unter Verstoß gegen diese Hinweispflicht vom Unfallversicherungsträger im Laufe eines Gerichtsverfahrens eingeholtes Gutachten unterliegt einem Beweisverwertungsverbot. BSG-Urteil vom 5.2.2008 B 2 U 8/07 bzw. B 2 U 10/07 R7
4.1 Sachverhalt
Der Kläger begehrt die Zahlung einer Verletztenrente nach einer MDE von 100 Prozent. Nach Einholung von Gutachten aus verschiedenen medizinischen Fachgebieten stellte die beklagte BG fest, dass ein Anspruch auf Verletztenrente nicht bestehe. Das Sozialgericht hat nach weiteren medizinischen Ermittlungen die Beklagte verurteilt, eine Unfallrente zu zahlen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht Beweis erhoben, insbesondere durch Einholung eines psychiatrischen Gutachtens nach § 109 SGG. Der Gutachter schätzte die unfallbedingte MDE des Klägers auf 100 Prozent. Hiergegen wandte sich die Beklagte unter Vorlage einer mit „Gutachten“ überschriebenen schriftlichen Äußerung von Dr. S., der davon ausging, dass kein schweres Unfallereignis vorgelegen habe. Danach hat das Landessozialgericht ein weiteres Gutachten in Auftrag gegeben, das Prof. Dr. F. nach Aktenlage erstattete. Der Kläger widersprach der Verwertung beider Gutachten. Das Gutachten des Dr. S. sei wegen eines Verstoßes nach § 200 Abs. 2 SGB VII nicht verwertbar, und auch das Gutachten von Prof. Dr. F., das sich auf das Gutachten von Dr. S. beziehe, unterliege einem Verwertungsverbot. Beide Gutachten seien aus den Akten zu entfernen. Das LSG hat die Rechtsauffassung des Klägers nicht geteilt. Es hat das Urteil des Sozialgerichts aufgehoben und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es u.a. ausgeführt, dass der Arbeitsunfall zu keiner länger anhaltenden organischen Gesundheitsstörung geführt habe und die psychische Erkrankung des Klägers nicht kausal dem Arbeitsunfall zugerechnet werden könne, wobei es auch auf die vom Kläger für unverwertbar gehaltenen Gutachten abgestellt hat, weil Aktengutachten in sozialgerichtlichen Verfahren nicht vom Tatbestand des § 200 Abs. 2 SGB VII erfasst würden. Das BSG ist dem LSG nicht gefolgt, hat das Urteil infolge eines Verfahrensmangels aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung an das LSG zurückverwiesen.
4.2 Wesentliche Entscheidungsgründe
Der Verfahrensmangel, so das BSG, liege in der Nichtbeachtung eines Beweisverwertungsverbotes, was zu einer mangelnden Tatsachenfeststellung wegen der Berücksichtigung unzulässiger Beweismittel geführt habe. Nach § 200 Abs. 2 SGB VII soll der Unfallversicherungsträger vor Erteilung eines Gutachtenauftrages dem Versicherten mehrere Gutachter zur Auswahl benennen; der Betroffene ist außerdem auf sein Widerspruchsrecht nach § 76 Abs. 2 SGB X und über den Zweck des Gutachtens zu informieren. Halbsatz 1 des § 200 Abs. 2 SGB VII regelt das Auswahlrecht des Versicherten vor Erteilung eines Gutachtenauftrages. Halbsatz 2 betont sein Widerspruchsrecht gegen die Übermittlung besonders schutzwürdiger Daten wie ärztliche Unterlagen, das bei der Erteilung eines Gutachtenauftrages zu beachten sein kann.
§ 200 Abs. 2 SGB VII, so das BSG, gelte auch für von Unfallversicherungsträgern im Laufe eines Gerichtsverfahrens eingeholte Gutachten. Systematische Gründe wie die Überschrift der Norm und die Stellung im Kapitel Datenschutz sprechen für eine Anwendung auf das Handeln der Unfallversicherungsträger im Gerichtsverfahren, und zwar vor dem Hintergrund, dass ein Gerichtsverfahren kein datenschutzfreier Raum sei, weil das Recht auf informationelle Selbstbestimmung umfassend gelte. Dieser verfassungsrechtliche Hintergrund spreche zudem gegen eine enge Auslegung der Norm, so dass Einschränkungen des Untersuchungsgrundsatzes durch § 200 Abs. 2 SGB VII rechtlich zulässig seien.
Von § 200 Abs. 2 SGB VII sei eine nicht erfasste beratende ärztliche Stellungnahme (Ärzte des Versicherungsträgers) abzugrenzen, die sich in erster Linie mit dem eingeholten Gerichtsgutachten, insbesondere im Hinblick auf dessen Schlüssigkeit, Überzeugungskraft und Beurteilungsgrundlage, auseinandersetze. Bei der mit „Gutachten“ überschriebenen schriftlichen Äußerung des Dr. S. handele es sich um ein Gutachten, weil es sich in der Überschrift als solches bezeichne und es sich nicht nur mit dem Vorgutachten auseinandersetze, sondern eine eigenständige Beurteilung des umstrittenen Ursachenzusammenhangs zwischen dem unstrittigen Arbeitsunfall und den vom Kläger geltend gemachten Gesundheitsstörungen vorgenommen habe.
Dr. S. sei zudem ein externer Gutachter, was sich u.a. aus seinem von ihm verwandten Briefkopf ergebe, so dass eine Übermittlung von Daten gem. § 67 Abs. 6 S. 2 Nr. 3 SGB X stattgefunden habe. Eine Datenübermittlung wäre gem. § 200 Abs. 2 SGB VII nur dann zulässig gewesen, wenn die Beklagte dem Kläger mehrere Gutachter zur Auswahl vorgeschlagen habe und ihn auf sein Widerspruchsrecht hingewiesen hätte. Weil dieses Verfahren nicht eingehalten worden sei, bestehe ein Beweisverwertungsverbot für das Gutachten von Dr. S. Zwar fehle es in den einschlägigen Prozessordnungen an ausdrücklichen Regelungen für die Nichtverwertung unzulässig erlangter Beweismittel, es sei aber in Rechtsprechung und Literatur anerkannt, dass Verstöße gegen Verfassungsrechte in der Regel zu einem Verwertungsverbot führen, so dass im vorliegenden Fall aufgrund des Verstoßes gegen das informationelle Selbstbestimmungsrecht aus Art. 2 Abs. 2 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG von einem Verwertungsverbot auszugehen sei.
Dieses Beweisverwertungsverbot ergebe sich, wie bereits erwähnt, vor dem Hintergrund, dass das Widerspruchsrecht aus § 200 Abs. 2 HS 2 SGB VII das Recht auf informationelle Selbstbestimmung konkretisiere. Im vorliegenden Fall erstrecke sich das Beweisverwertungsverbot zudem auf das Gutachten von Prof. Dr. F. Entscheidend für die Reichweite oder Fernwirkung eines Beweisverwertungsverbotes sei, ob durch die Verwertung des weiteren Beweismittels der grundrechtliche Verstoß perpituiert werde. Hiervon sei im vorliegenden Fall auszugehen, da das Gutachten von Prof. Dr. F. auf dem Gutachten von Dr. S. aufbaue und zum Teil dieselben Formulierungen verwendet würden.
Eine Heilung könne nur dadurch erfolgen, dass die unter Verstoß gegen das Widerspruchsrecht erlangten Gutachten aus den Akten zu entfernen sind. Gegen dieses Ergebnis würden auch keine Aspekte des rechtlichen Gehörs des Unfallversicherungsträgers sprechen. Im Übrigen könnten die Unfallversicherungsträger sich jederzeit an interne Berater, wozu auch Ärzte mit Beratervertrag gehören, wenden, denn § 200 Abs. 2 SGB VII finde in diesem Verhältnis keine Anwendung, weil es sich hierbei nicht um Dritte i.S.v. § 67 Abs. 10 SGB X handele, so dass keine Datenübermittlung (s. § 67 Abs. 6 S. 2 Nr. 3 SGB X) stattfinde. Ebenfalls nicht anzuwenden sei § 200 Abs. 2 SGB VII bei der Übermittlung anonymisierter Daten an einen externen Gutachter.
Ob der gleichzeitige Verstoß gegen das Gutachterauswahlrecht des § 200 Abs. 2 HS 1 SGB VII ebenfalls ein Beweisverwertungsverbot des Gutachtens zur Folge habe, könne offen gelassen werden. Gegen ein Verwertungsverbot spreche, dass nicht zu erkennen sei, wieso das Recht auf informationelle Selbstbestimmung zwingend zu einem Auswahlrecht hinsichtlich des Sachverständigen gegenüber dem beklagten Unfallversicherungsträger führen müsse.
Anmerkung
Insgesamt ist der Entscheidung des 2. Senats des BSG zuzustimmen. Sie erzeugt nicht nur in einigen umstrittenen Punkten bezüglich der Auslegung des § 200 Abs. 2 SGB VII Rechtsklarheit, sondern verhilft dem Grundsatz auf informationelle Selbstbestimmung zur nötigen Geltung. § 200 Abs. 2 SGB VII findet somit auch bei Einholung von Gutachten durch den Unfallversicherungsträger im Laufe des Gerichtsverfahrens Anwendung. Ein allgemeines Beweisverwertungsverbot folgt aber nur aus einem Verstoß gegen die Belehrungspflicht hinsichtlich der Nichtweitergabe von medizinischen Daten nach Halbsatz 2, nicht aus einem Verstoß gegen die Benennungspflicht mehrerer Gutachter nach Halbsatz 1. Ausgehend von einem allgemeinen Beweisverwertungsverbot hat das BSG dann konsequenterweise in Anlehnung an das Rechtsinstitut des „Folgenbeseitigungsanspruchs“ die Entfernung der erstatteten Gutachten aus den Akten ausgesprochen.
Beachtlich ist – darauf wird besonders hingewiesen –, dass ein Verstoß gegen die Datenschutznorm nach Halbsatz 2 aber nur bei „rechtzeitiger Rüge“, die spätestens in der letzten mündlichen Verhandlung zu erheben ist (§ 295 ZPO), geltend gemacht werden kann. Bei rechtsunkundigen Parteien muss ggf. ein gerichtlicher Hinweis erfolgen. In diesem Zusammenhang sei noch ein Hinweis auf das Rentenversicherungsrecht erlaubt. Die in § 200 Abs. 2 Halbsatz 2 SGB VII normierte Benennungspflicht mehrerer Gutachter gibt es im Rentenversicherungsrecht nicht. Die speziellen Besonderheiten im Unfallversicherungsrecht lassen sich aus der häufigen Einschaltung außenstehender Gutachter im berufsgenossenschaftlichen Verfahren erklären. Ein Widerspruchsrecht des Versicherten hinsichtlich der Übermittlung medizinischer Daten ergibt sich auch im Rentenversicherungsrecht aus § 76 Abs. 2 Nr. 1 SGB X. Hat der Versicherte z.B. in einem anhängigen Verfahren wegen Gewährung einer Erwerbsminderungsrente der Übermittlung eines Gutachtens aus einem Unfallrentenverfahren widersprochen, ist die Übermittlung sowohl an einen anderen Sozialleistungsträger als auch an einen weiteren Sachverständigen unzulässig. Widerspricht der Versicherte z.B. im Rahmen eines Rentenverfahrens einer Übermittlung nicht, ist die Übermittlung eines Gutachtens/Befundberichtes an andere Sozialleistungsträger, an externe Gutachter und auch in einem anschließenden Rechtsstreit an das Sozialgericht zulässig. Die Übermittlung an eine Stelle, die kein Leistungsträger im Sinne des Sozialgesetzbuches I ist – z.B. an einen freiberuflichen Arzt oder an ein privates Versicherungsunternehmen – ist nur dann zulässig, wenn der Versicherte einwilligt.